Das Mysterium der Zeit
venezianische, päpstliche Kriegsschiffe erbeutet. Noch größere Erträge bringen jedoch die Streifzüge an Land: ganze Flotten nähern sich den Küsten bei Nacht und überfallen Dörfer und Städte, um die Einwohner zu Hunderten zu deportieren. Hier wird besonders grausam gewütet: zum Beispiel überfallen die Korsaren dasselbe Dorf an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, weil die Bewohner nach dem ersten Mal glauben, der Feind sei |322| abgezogen. Oder sie schneiden die Glockenstränge der Kirche durch, damit kein Alarm geläutet werden kann. Korsarennamen wie Christenschlächter sagen schon alles.
In Tunis, Tripolis oder Algier angekommen, werden die Gefangenen in die Zellen der Sklavenbäder geworfen, wo sie Hunger leiden und krank werden. Wer nicht losgekauft wird, dem bleibt nur die Konversion. Auch hier ist der Weg geebnet, die Sache so einfach, dass fast niemand der Versuchung widersteht. »Es gibt keinen anderen Gott als Allah, und Mohammed ist sein Prophet« – schon erledigt! Mit dem rechten Zeigefinger zum Zeichen des Schwurs auf den Himmel weisend, spricht man diese Formel vor dem eigenen Herrn und wenigen Zeugen.
Nun beginnt ein neues, aufregendes Leben, wo Meere und Küsten eine Ernte bieten, die nicht einmal ausgesät werden muss, wo schändliche Lust am Brandschatzen, Plündern und Morden öffentlich gelobt und wie Tugenden belohnt wird.
Ganze Heerscharen von Christen erliegen dieser Versuchung. In Algier leben mehr Renegaten als ursprüngliche Einwohner. In den befehlshabenden Rängen finden sich fast nur Italiener, sie sind gerissener als alle anderen. Wie der große Occhialì aus Kalabrien, wie der Sizilianer Vincenzo Cicala, wie der Venezianer Mohammed di Chio, Gatte der Tochter von Ramadan, des Pascha von Tripolis. Mit einem Komplott stürzte er seinen Schwiegervater, übernahm die Macht, verhandelte als Ebenbürtiger mit den Nachbarregionen, tauschte mit ihnen Kamele, Eunuchen, Sklaven und Mädchen. Er unterdrückte Verschwörungen, ermordete Rivalen, zwang einen Augustinerpater zur Konversion und ließ ihn von anderen Renegaten lynchen, als er sein Wort zurücknahm. Dann aber bereute er und erlaubte sogar Franziskanerpatern, in seinem Reich zu missionieren. Erst als man seinen zwölfjährigen Sohn vergiftete, wurde er schwermütig und brachte sich um.
Nur sehr wenige haben sich einen Rest Ehrgefühl bewahrt, wie der englische Pirat Digby, ein katholischer Baronet. Während seiner Überfälle in Griechenland ging er auf die Suche nach antiken Statuen, und als er ein wehrloses Schiff mit einer vollkommen betrunkenen Mannschaft hätte entern können, ließ er es ziehen.
|323| »Viele wechseln zur Gegenseite über, weil sie schon in zartem Alter dazu gezwungen werden«, wandte Hardouin ein.
Der bretonische Buchhändler berichtete, dass für das Janitscharenkorps, das tapferste und gefürchtetste im Heer des Sultans, jedes Jahr viele tausend christliche Kinder in den Balkanländern entführt werden. Sie werden ihren Familien entrissen und zunächst feige in einer Art verwässertem Christentum mitsamt vorgetäuschter Beichte und Kommunion erzogen, damit sie ihren ursprünglichen Glauben nicht zu sehr vermissen. Doch dann geht man nach und nach zu den Vorschriften Mohammeds über, damit diese Menschen jedes Jahr höhere Aufgaben im Osmanischen Reich übernehmen, sich bereichern, Macht und Zufriedenheit erwerben können, bis sie zuletzt ihre Ursprünge vergessen und zu Mördern ihrer einstigen Landsleute werden, ja, selbst Kinder entführen.
»Das ist wahr«, sagte der Korsar. »Denn die Janitscharen sind keine Verräter. Aber bei den Nazarenern habe ich Brudermörder gesehen. Ich habe mit Überlebenden aus Ceriale in Ligurien gesprochen. Vor vielen Jahren wurden die Familien dieses Ortes nachts von einem seit Jahren verschwundenen einstigen Nachbarn überrascht, der mit vier oder fünf bewaffneten Barbaresken in ihre Häuser eindrang. Er legte seine Spielkameraden, seinen Lehrer und seinen Pfarrer von einst in Ketten, zündete ihre Häuser an und verschleppte sie nach Tunis oder Algier, um sie als Sklaven zu verkaufen.«
DISKURS XLVI
Darin man sich damit abfindet, eine ganze Weile auf der Insel bleiben zu müssen.
Als das Echo von Kemals traurigen Auslassungen verklungen war und wir die Klippe fast wieder erklommen hatten, hob eine kleine Neuigkeit die Stimmung.
»Seht mal!«, rief Hardouin, nach unten zeigend, wo die Wellen sich am felsigen Ufer brachen.
Die schwarze Silhouette bewegte
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