Das Mysterium der Zeit
–
Da, wo das Ungewordene liegt.
Naudé und Bouchard lieben diese mächtigen, schrecklichen Verse, die den Feinden des naiven Glaubens aus der Seele gesprochen sind. Und sie werden direkt vor dem Papst rezitiert.
|332| Merken die Barberini etwas? Natürlich nicht, sie sind viel zu beschäftigt mit der Regierung Roms und ihren tausenderlei Händeln mit den europäischen Mächten. Andernfalls hätte die Karriere des jungen französischen Abts einen schweren Schlag erlitten.
Das Gegenteil geschieht: Die Accademia degli Umoristi, der Treffpunkt von Gelehrten und Künstlern, zu dem die ganze Familie Barberini einschließlich Seiner Heiligkeit gehört, bittet ihn um eine Gedenkfeier für den verstorbenen Peiresc. Am Himmelfahrtstag beauftragt der Heilige Vater persönlich Bouchard mit einer Rede und ihm wird sogar die Ehre zuteil, sie öffentlich, in Gegenwart des Papstes, verlesen zu dürfen. Am Tag des heiligen Ludwig, des Schutzpatrons von Frankreich, darf er in der Kirche der französischen Gemeinde zwischen der Piazza Navona und dem Pantheon die Predigt halten. Die Kirche ist gesteckt voll, unzählige Kardinäle und Adelige sitzen in den Reihen, darunter auch der französische Botschafter und sein Gefolge aus sechzig Kutschen.
Die Krönung erfolgt im Januar 1641, genau zehn Jahre nach seiner Ankunft in Rom. Die versammelten Kardinäle wählen ihn unter großem, allgemeinem Applaus zum Priester des Heiligen Konsistoriums. Die Ernennung zum Bischof, die er seit Jahren betreibt, ist keine ferne Schimäre mehr.
Naudé hat ihn natürlich nie aus den Augen verloren. Immer diskret, doch hartnäckig hat er Kontakt mit dem Freund gehalten und ist über all seine Erfolge informiert.
Dann geschieht die Tragödie. Eines Abends im März, also kurz nach der Erhebung in den Priesterstand durch die Kardinäle, wird Bouchard von zwei Unbekannten auf der Piazza San Pietro überfallen und niedergeschlagen. Es gibt keine Zeugen. Man hat ihn mehrmals am Kopf getroffen, blutüberströmt kann er sich mühsam in eine Kirche schleppen und um Hilfe bitten. Er wird in seine Wohnung im Palazzo der Päpstlichen Kanzlei gebracht. Um seinen Ruf zu schützen, verbreiten Freunde das Gerücht, er sei mit dem Schwert angegriffen worden – einen Stock benutzt man gegen Dienstboten und Untergebene.
Der erste Verdächtige ist der Marschall d’Estrées, Botschafter des Allerchristlichen Königs von Frankreich, der Bouchards Ernennung zum Konsistorialpriester nicht gutgeheißen hat. Sie war gegen seinen Willen und ohne seine Einwilligung erfolgt. Die Empörung ist groß: |333| Die beiden Kardinäle Barberini erklären sich »in tiefster Seele verstört«, das Konsistorium sendet Protestschreiben nach Frankreich, der Papst persönlich lässt eine Galeere vorbereiten, um d’Estrées des Landes zu verweisen, wenn der Allerchristlichste König nicht von sich hören lässt. Am Bett des Verletzten drängeln sich die wichtigsten Namen des päpstlichen Hofstaates zu Dutzenden, Botschafter, Fürsten und Kardinäle, und auf dem Nachttisch häufen sich die Briefe mit herzlichen Genesungswünschen. Im Kardinalskollegium wird sogar gefordert, ihm als Anerkennung für seine treuen Dienste am heiligen Glauben, die er ungeachtet aller Gefahren bis zum Martyrium leistete, die lang ersehnte Bischofswürde zu verleihen. Es gibt in Frankreich zwar keine vakanten Bischofssitze, doch der Posten in Cagli im Kirchenstaat ist frei. Hier könnte der Ärmste die ehrgeizigen Werke verfassen, die er plant: eine Geschichte der griechischen Kirche und eine Geschichte der Gegenwart.
Monate vergehen, aber sein Zustand bessert sich nicht, Bouchard bleibt in sein Zimmer in der Kanzlei verbannt. Mit Höhen und Tiefen vergehen der Frühling und Sommer, selten ist er fieberfrei, auch in der Sommerhitze nicht, was kein gutes Zeichen ist. Er hat d’Estrées Diener angezeigt, von dem er seiner Meinung nach angegriffen wurde, einen gewissen Charlier, der aber nach Frankreich flieht, von wo er nach königlichem Gesetz nicht ausgeliefert werden kann. Sein Testament hatte Bouchard schon früher gemacht, am 15. August fühlt er sein Ende nahen und setzt ein neues Testament auf. Er legt eine Summe zurück, damit am Tag seines Ablebens hundert Messen für seine Seele gelesen werden, und eine jedes Jahr an seinem Todestag im Kartäuserkloster von Paris. Er bittet darum, in der Kirche Santa Maria degli Angeli bestattet zu werden. Seine privaten Papiere vermacht er zum Teil den Barberini,
Weitere Kostenlose Bücher