Das Mysterium der Zeit
andere ihrem Kammerherrn, dem Cavaliere und Commendatore Cassiano dal Pozzo, Fürst der römischen Gelehrten. Die Arbeit über die griechischen Chronisten Synkellos und Theophanes bleibt unvollendet.
Zwei Wochen später verbreitet die Französische Gazette die traurige Nachricht im ganzen Königreich: Der Abt Bouchard, französischer Abstammung, Doktor der Theologie und Kleriker des Konsistoriums, starb mit fünfunddreißig Jahren in seiner Wohnung in der Päpstlichen Kanzlei am Fieber, nachdem er die Sakramente empfangen |334| und zahlreiche fromme Verfügungen in sein Testament aufgenommen hatte.
Die Barberini ordnen an, ihm zu Ehren ein Grabmal in der Kirche zu errichten, wo er bestattet liegt. Die Dichter sollen diesen jungen Mann von kleiner, unscheinbarer Statur, aber von erhabenen Geist und Kenntnisreichtum vor allem in der griechischen und lateinischen Literatur mit pompösen Hymnen feiern. Postum wird er für den großen Eifer gelobt, mit dem er Freunden half, für seine sanftmütigen Umgangsformen, für seine Schlichtheit, die Schmeichelei und Stolz abhold war, für seinen geduldigen Dienst an der Wissenschaft und seine Gesprächskunst – kurzum, wenn das Schicksal ihn der Welt nicht vorzeitig entrissen hätte, würde er zu den größten Geistern aller Zeiten gehören.
»Da sind wir wieder! Wie geht es den Verletzten?«
Jäh wurden wir durch diese Worte in die Wirklichkeit zurückgeholt. Mustafa und Malagigi waren von ihrer Suche zurückgekehrt, sie brachten einige üppige Büschel Luzerne, ein treffliches Heilkraut gegen Verletzungen, und ein wenig Wasser, das sie geduldig von den Blättern geschöpft hatten.
»Kein Grund zur Besorgnis«, erklärte Kemal, während er Naudés Kopfwunde und die Abschürfung an Hardouins Hüfte noch einmal untersuchte.
»Sag ich doch. Der hat einen Dickschädel«, knurrte Schoppe, bevor er seinen Bericht wiederaufnahm.
NOTIZ
Darin erzählt wird, was man nach seinem Tod über Bouchard erfuhr.
Alles ist für den Nachruhm vorbereitet. Doch der Tod ist kein guter Wächter über die Vergangenheit. Cassiano dal Pozzo, den Bouchard in den fünf langen Monaten zwischen dem Überfall und dem Tod zum Vollstrecker seines Letzten Willens gemacht hatte, kramt in den |335| Papieren des Verstorbenen und findet Schriften, die ihm den Atem verschlagen.
Es sind Tagebücher, Memoranden von Reisen, Bündel mit Briefen Bouchards, die eine ganz andere Persönlichkeit offenbaren als den in den Nekrologen beweihräucherten Edelmann. Es kommt heraus, dass Bouchard in seiner Jugend von zuhause ausriss, er wurde von den Eltern sogar in Unehren fortgejagt. Anscheinend wegen einer Banalität: er trieb es mit einer Magd, und seine Familie war gegen diese Liebe. Sein Vater war ein hoher Richter, diese heimliche, unschickliche Verbindung war nicht hinnehmbar. Nach der Verbannung aus dem väterlichen Hause flüchtete er sich in eine Wohnung, die ihm der Bischof von Digne, ein Freund der
Deniaisez
, zur Verfügung gestellt hatte. In diesen Jahren notierte der junge Bouchard in einem Tagebuch seine intimen Erfahrungen mit jungen Frauen wie mit jungen Männern. Die Einzelheiten sind ekelhaft und peinlich: Sein Körper hielt mit den erotischen Abenteuern nicht Schritt, er verriet ihn sogar immer dann, wenn das Verlangen am stärksten war und die Gelegenheit wie auf einem Silbertablett serviert wurde. Dagegen klappte alles, wenn die Ausübung unmöglich oder gefährdet war. So war auch die feurige Liebschaft mit der Magd entstanden: das Mädchen wollte sich nicht ganz hingeben, und eben das hatte bei Bouchard eine obsessive, unersättliche Leidenschaft entfacht, die beide nach der endgültigen, tränenreichen Trennung jungfräulich wie Kinder zurückgelassen hatte. Doch das Schlimmste in dem Tagebuch war die Chronik aller unflätigen Verirrungen des Bouchard, seine zügellosen Erfahrungen mit anderen Jungen in einem Alter, in dem man nimmt, was erreichbar ist und die Hände flink zugreifen. Minuziöse, entwaffnende, oft abstoßende Schilderungen aller verborgenen Winkel des Körpers und ihrer Säfte, Beschreibungen animalischer Kopulationen und erbärmlicher Perversionen, Dinge, die jeden für immer um seinen guten Ruf bringen können, erst recht jemanden, der jahrelang überall Druck ausgeübt hat, um Bischof zu werden! Weiter Memoiren seiner Zeit in Italien, einschließlich der Reden von Trouiller und ganze Listen französischer Mitglieder der Starken Geister. Und wieder Tändeleien mit Mägden, mit
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