Das Mysterium der Zeit
Eiern und lachen immer mehr, denn in diesem Moment verkörpern sie, dem Anschein nach zwei einfache Secretari, den Höhepunkt in der Geschichte der Starken Geister: Die Reise nach Italien, ruhmreiches Land der Humanisten (Petrarca, Boccaccio …), welche die Kultur der griechischen und lateinischen Antike wiederentdeckt hatten, ist eine heilige Pflicht für jeden der
Deniaisez
. Und beide – einer ein Mitglied der berühmten Tetrade und einer ihr vielversprechender Anhänger –, lebenslustige Häretiker, die Avantgarde des gebildetsten und raffiniertesten Skeptizismus, stehen sogar im Dienst mächtiger Kardinäle und haben Zugang zu Seiner Heiligkeit! Fröhlich Eier nach rechts und links werfend, verstreuen sie in der Ewigen Stadt, dem |338| Mekka der Bigotten, den fruchtbaren Samen ihrer gebildeten Libertinage, ihrer heiteren Verachtung der Religion, rufen: »Es lebe Pyrrhon der Skeptiker!«, lachen unentwegt und spüren, als Frauen verkleidet, dass sie Freunde geworden sind, sogar mehr als das, denn die noble Vereinigung der Starken Geister erlaubt alles.
Am Abend besucht Bouchard Theatervorführungen: den
Sant’Alessio
, eine musikalische Komödie von Stefano Landi. Das Libretto stammt von Giulio Rospigliosi, dem Secretarius der Päpstlichen Breven. Kardinal Francesco Barberini empfängt ihn persönlich, die Handlung flüstert ihm Lukas Holste ins Ohr, der hochgelehrte Bibliothekar der päpstlichen Familie, der seine Stelle in Rom dank der guten Beziehungen von Peiresc, des Meisters aller Meister, der Frauen hasst, zu den Barberini bekommen hat. Auf der Bühne stehen die besten Kastraten der Stadt, und Bouchard beobachtet, wie die Kardinäle Aldobrandini und Sangiorgio mitten im Publikum nach den jungen effeminierten Putten lechzen, wie sie mit den Zungen schnalzen und, die fleischigen Lippen vorschiebend, um süße Dienste flehen – wenigstens wird er es so seinen Freunden berichten.
Tagsüber wird Bouchard von Naudé zu den Zusammenkünften der wichtigsten Franzosen in der Stadt mitgenommen. Sie finden in der Buchhandlung Il Sole auf der Piazza Navona statt, einem Treffpunkt von Romanciers, Botschaftspersonal, Dichterlingen, Müßiggängern. Man diskutiert über neue Bücher, den einen oder anderen unorthodoxen Philosophen, eine pikante Klatschgeschichte, genießt die angenehme Gewissheit, sich in Gesellschaft gewitzter, spritziger Geister zu befinden, die auf dieses Märchen mit der Religion und dem Jenseits nicht so leicht hereinfallen, die die Herde der Frommen und Andächtigen verachten und Selbstmordphilosophen wie Sokrates und Seneca bewundern. Der Selbstmord steht bei Naudé und Bouchard und ihren Freunden in hohem Ansehen, ist er doch das Zeichen für einen gesunden Skeptizismus, denn die christliche Religion verbietet ihn um des Seelenheils willen. Also ist es nobel, sich mit einem Lächeln auf den Lippen selbst den Tod zu geben, wie Petronius es tat, oder mit dem Ernst des Philosophen, wie Seneca. Diese beiden Selbstmorde wurden von Tacitus, den der berühmte Poggio Bracciolini wiederentdeckte, großartig geschildert.
Naudé und Bouchard sind jetzt fast unzertrennlich, aber niemand ahnt es, denn sie folgen der Regel von Peiresc: Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. |339| Vielleicht wissen sie selbst nicht einmal, was sie füreinander bedeuten: Freunde, Kollegen, Komplizen oder etwas anderes.
Eines Sonntags nimmt Naudé Bouchard zu einem Freund mit: Joseph Trouiller, ein französischer Arzt, gut eingeführt am päpstlichen Hof. Man führt freigeistige, philosophische Gespräche, an denen Bouchard erkennt, dass auch Trouiller einer der
Deniaisez
ist und sich an der »subtilen Kunst« erfreut, über die er eine schöne Lektion erteilt. Der Arzt nennt sie »den Blick schärfen«, denn beim Analverkehr, erklärt er, verliert man weit weniger Samen als wenn man sich in die Vulva entleert. Man spritzt nämlich unversehens, und der Geist wird nicht übermäßig abgelenkt, folglich wird auch die Sehkraft nicht geschwächt, im Gegenteil, sie wird erfrischt und gestärkt durch das Gefühl, das die Lust im ganzen Körper erzeugt, die zu plötzlich und zu heftig kommt, um dabei geistige Kräfte zu vergeuden. Zu Recht sagte Bacon, nichts erhalte den Körper jünger und kräftiger als die Erregung beim Koitus, man dürfe jedoch nicht bis zum Ende weitermachen. Es sei von Nutzen, mit jungen Menschen zu üben, eben das habe die antiken Philosophen so gesund erhalten. Arnaldo da Villanova schrieb in deutlichen Worten,
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