Das Mysterium der Zeit
|51| Stattdessen war ich zufrieden. Ich zeigte es dir nicht, im Gegenteil, ich steckte dir ein Billet zu, dessen Inhalt etwa folgendermaßen lautete:
Ich mag ein allzu verwegener Deuter verborgener Gedanken sein, doch scheinen sie, vom Feuer in deiner Brust verbrannt, ihre Asche auf deinem Gesicht verstreut zu haben. Und der Anblick deines aschgrauen Gesichtes drängt mich, mit dir zu sprechen. Um deine Verletzungen zu heilen, tut kühne Indiskretion not, die das Eisen dort einführt, wo es die Wunde zwar erneut öffnet, gleichzeitig jedoch den Weg zur Heilung bereitet.
»Der Signor Secretarius wünscht, sich mit mir zu besprechen?«, fragtest du gestelzt, nachdem du das Billett gelesen hattest. Du ahntest ja nicht, dass dein naiver Hochmut mich zärtlich stimmte, statt mich zu beleidigen.
»Ja, Signorino«, antwortete ich.
Im Schutz des heulenden Westwinds konnte ich sprechen, ohne neugierige Ohren fürchten zu müssen. Also hielt ich dir jene kleine Rede, die der Anlass gebot: »Wer nicht lügen kann, kann nicht regieren. Ich werde darum aufrichtig zu dir sprechen. Der launischen Schicksalsgöttin muss man die großen Momente im Leben entweder überraschend oder durch Verstellung entreißen. Darum muss in dir, mein Söhnchen, das Geschlecht lügen, wenn du lernen willst, die guten Früchte deines Unglücks zu ernten. Die Natur machte dich zum Mann, dein Vater wollte dich als Weib. Doch von einer Frau hast du nicht mehr als die Lüge seiner gedungenen Schlächter, die über die Natur und das Schicksal triumphieren wollten, indem sie dich verstümmelten und dich zur Frau erklärten. Er hat dich so zurichten wollen, wie er dich nicht hat zeugen können, und sich darin als Vater gezeigt, dass er dein wahres Wesen leugnete, statt es dir zu geben. Alle bestärkte er in der Überzeugung, dich bis in deine Seele hinein kastriert zu haben, und so verbreitet und tief verwurzelt ist diese Vorstellung schon, dass nur du sie ausmerzen kannst. Achte jedoch auf die Folgen, die sich aus dem Festhalten an diesem Betrug ergeben: vergiss nicht, dass auf deine unbedachten Handlungen unvermeidlich der Verlust des Applauses folgen wird. Bedenke, dass die unglückselige Stellung, in der du dich befindest, großes Talent zur Täuschung und |52| Verstellung erfordert, und nur dank seiner wirst du überleben. Die Klinge des Schweineschlächters ermordete dich und machte dich gegen deinen Willen zum Engel. Ein normales Schicksal blieb dir verwehrt, weil man dir den Boden unter deinen kindlichen Füßen wegzog und dich zum gefährlichen Gang eines Menschen verdammte, der auf Messers Schneide geht, um die Gier seiner mächtigen sodomitischen Gönner zu befriedigen. Wenn deine eigenen Sehnsüchte, ihren unflätigen Plänen zum Trotze, der Natur folgen, erwarten dich die Straße und schließlich der Abgrund. Zeige dich also nicht als Mann, und die lebendige Liebe sei der Feind deiner Gedanken, weil in ihr jedes Glück, das du genießt, blitzschnell untergehen wird. Gewöhne dich daran, Ruinen zu hinterlassen, in dir hat die Liebe Grund, dich bis in die Grundfesten zu erschüttern. Erwäge, welche Schätze durch deine Schwächen verlorengehen, sobald diese Schwächen dein wahres Wesen offenbaren. Richte alle deine Kräfte auf die Notwendigkeit, dass du deine Mörder überlebst. Überlege und plane und spiele all jene Rollen, die deiner Lüge Geltung verschaffen. Übergroß ist dein Unglück, bitter der Kelch, den zu leeren du aufgerufen bist. Nie länger als eine winzige Zeitspanne und nur um eine gewisse Erholung zu erlangen, wirst du, wenn du willst, dich gelegentlich vor dir selbst verbergen und ausnahmsweise vom
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oder »Erkenne dich selbst« abweichen können, indem du auf Wegen außerhalb deines Selbst wandelst. Freilich musst du dich, bevor du dir diesen Luxus erlaubst, streng und erbarmungslos prüfen, und dabei nicht an der Oberfläche der Meinungen verweilen, welche sehr oft irren, sondern musst in die Tiefe deiner Gedanken vordringen und um das Maß und die wahre Bedeutung deines Wertes wissen. Es ist unglaublich, dass die Menschheit so sorgsam darauf bedacht ist, den Preis ihrer Habe zu kennen, doch nur wenige Menschen Sorge tragen oder neugierig sind, den wahren Wert ihres Seins zu erfahren. Wenn du nun das irgend Mögliche getan hast, um dein wahres Selbst zu erkennen, magst du dir sodann für ein paar Tage die Freiheit nehmen, dein unseliges Los zu vergessen, und versuchen, wenigstens mit einem Bild der
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