Das Mysterium der Zeit
halten vermag. Und so entkam Malagigi durch sein Geschick sogar dem Untergang seines Padrone: Nach dem Tod Papst Urbans VIII. flohen seine Neffen, die Kardinäle Francesco und Antonio, nach Frankreich, um der Rache des neuen Papstes Innozenz X. Pamphili zu entgehen, der sie in einem Prozess wegen Veruntreuung zermalmen wollte. Malagigi aber blieb seelenruhig in Rom, wo er noch heute singt, was ihm beliebt, und wird von diesem neuen Papst nicht weniger als vom alten geliebt. Darum hat Mazarins Agent in der Ewigen Stadt auch zwei Monate gebraucht, bis er den Papst überreden konnte, Malagigi endlich nach Frankreich abreisen zu lassen, worum Mazarin ergebenst gebeten hatte. Doch man kann darauf wetten, dass Malagigi, sobald er sich von Mazarin ein paar Triller und hohe Töne mit Gold hat aufwiegen lassen, eilig nach Hause zurückkehren wird.
|57| Wenn man euch beide anschaute, schienet ihr wie Brüder: der gleiche fleischige Mund mit der aufgeworfenen Oberlippe und der in der Mitte wie eine reife Pflaume gefurchten Unterlippe, das gleiche Grübchen im Kinn, die gleichen mandelförmigen Augen mit langen Wimpern und zu stolzen Bögen gerundeten Augenbrauen. All das sind typische Merkmale der Kastraten. Ihr würdet einander vollkommen gleichen, wenn Malagigi nicht sehr viel dunkler an Haut und Haaren wäre und keine kohlschwarzen Augen hätte, während du blass und blond bist wie Weizen und blauviolette Pupillen hast wie ein zweiter Erzengel Gabriel. Also musstest du schon mit fünfzehn Jahren erleben, dass blutjunge Singvögelchen nach dir schmachteten, doch nicht nur diese, auch junge Komponistinnen wie die Strozzi, ja sogar Dichterinnen und adelige Damen. Und leider nicht nur diese.
An Bord unseres Schiffes befanden sich Personen von erlesener Bildung, die auch die anspruchsvollsten Geister zu unterhalten vermochten. Jener Teutsche Caspar Schoppe zum Beispiel, siebzigjährig und eine elegante Erscheinung, der Italienisch mit dem amüsanten Akzent der deutschen Pilger sprach (wie viele hattest du in Rom gehört!), doch seltsamerweise gerade aus Padua kam, wo er wer weiß welchen Geschäften nachging. Der Blick fest, die Augen schwarz und stolz, der geschwungene Schnurrbart und der Spitzbart am Kinn tadellos gepflegt, hochgewachsen, korpulent, doch von kerzengerader Haltung und einem in der Farbe schwarzer Traubenkerne gefärbten Haarschopf, um das Ergrauen des Alters zu verbergen. Diesen Schopf krönte mitten auf dem Kopf ein dichtes, spitz zulaufendes Büschel Haare.
Aus den wenigen Worten, die man ihm entlocken konnte, hattest auch du, mein junger Atto, geschlossen, dass Schoppe höchst bewandert war in den griechischen und lateinischen Klassikern, außerdem in Fragen der Religionslehre. Doch er blickte sich häufig misstrauisch um und kritzelte fortwährend hastige Anmerkungen in ein Heftchen.
Oder jener Franzose aus der Bretagne, Louis Hardouin, von Beruf Buchhändler und Drucker in Paris, der alles über Handschriften und seltene Ausgaben wusste. Von niedrigem Wuchs, aber magerer, nervöser Konstitution, besaß er den wachen Blick des Händlers, doch auch von ihm wusste man nicht recht, was er auf dem Meer der Toskana zu tun gedachte. Tatsächlich schien er es kaum erwarten zu können, wieder französischen Boden unter den Füßen zu haben, um zu seinen geliebten |58| Druckpressen zurückzukehren und sich seinen Bücherstapeln zu widmen, zumal seine Frau ein Kind erwartete, das bald, vielleicht noch vor Weihnachten zur Welt kommen sollte. Hardouin kehrte von einer Rundreise durch Europa zurück, die auf der Messe der Buchhändler in Frankfurt begonnen hatte, welche gewöhnlich Ende September anlässlich des Festes des heiligen Michael abgehalten wird.
Bei ihm war der Pariser François Guyetus, ebenfalls siebzigjährig wie Schoppe, doch vom Alter gebeugt, auf dem Kopf eine graumelierte Mähne, dicht wie ein Schilfwald, und einen herrischen Tonfall in der Stimme. Guyetus galt als einer der berühmtesten Kenner der lateinischen und griechischen Klassiker, es hieß, er könne sämtliche Oden von Horaz auswendig hersagen, ja sogar Vergils gesamte
Aeneis
von oben bis unten. Eigene Veröffentlichungen hatte er keine: er begnügte sich damit, seine Texte lateinischer und griechischer Dichtung über und über mit scharfsinnigen Anmerkungen zu versehen, und oft gelangte er zu überraschenden Schlussfolgerungen, die die Welt der Pariser Gelehrten in Aufruhr versetzten. So war Guyetus, um nur ein Beispiel zu nennen, zu der
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