Das Mysterium der Zeit
gewesen sein; der König Sesochris aus der zweiten Dynastie soll fünf Ellen und drei Spannen groß gewesen sein, also fast so groß wie ein Elefant; alle Könige der achten Dynastie, und es waren nicht weniger als 76!, sollen weniger als zwei Jahre lang regiert haben, während die Herrscher der fünfzehnten Dynastie jeder ein halbes Jahrhundert regierten. »Alles falsch, alles falsch«, dachte Bouchard, »das sind wieder solche Gotteslästerungen, wie die der römischen und griechischen Historiker Livius, Valerius Maximus, Herodot und Plutarch.«
»Manetho!«, unterbrach mich Schoppe. »Ich habe ihn gründlich |537| studiert und bin mit Bouchard einer Meinung. Von Manetho weiß man praktisch gar nichts, und wenn es ihn gegeben hat, war er ein abgefeimter Lügner.«
Berossos, der andere Historiker, den Synkellos nennt, war ebenfalls ein Geheimnis aus lauter Geheimnissen. Nicht nur, dass er von einem Propheten-Fisch erzählte, nein, wann immer man herauszufinden versuchte, was er geschrieben hatte und aus welchen Quellen er seine Informationen bezog, stieß man auf verschwundene Werke. Diese Lücken gab es nicht nur in der Moderne. Schon in den Handschriften, von denen unsere fleißigen Humanisten schworen, sie stammten aus dem Mittelalter und gingen auf das alte Griechenland zurück, konnte man lesen, dass kein antiker Historiker je einen Text von Berossos in den Händen gehabt hatte, alle kannten ihn nur durch andere Historiker wie Kleomedes, Pausanias, Athenaios, Censorinus
et cetera
, deren Schriften jedoch ihrerseits fast alle verloren waren. Auch die mittelalterlichen Handschriften, die Werke römischer Historiker wie Cäsar, Plinius dem Älteren und Seneca dem Jüngeren enthielten, berichten, dass diese Historiker Berossos nur indirekt, durch die Zitate bei Poseidonius kannten, dessen Schriften später jedoch ebenfalls verlorengingen.
Berossos wurde auch von anderen kopiert: eine Menge obskurer Namen, die sich am Ende fast alle nur als Namen ohne jeden Hintergrund entpuppten, weil ihre Werke zufällig ebenfalls sämtlich verschwunden waren. Auch diese verlorenen Autoren waren vor ihrem Verschwinden von anderen, ebenfalls verlorenen Autoren kopiert worden, und so weiter, bis man bei den unvermeidlichen mittelalterlichen Handschriften ankam, deren Inhalt sich gegenseitig zu bestätigen schien, sodass sie einander Glaubwürdigkeit verliehen. »Nimmt man nur einen Stein aus dem Haus heraus, stürzt es ein«, schrieb Bouchard auch in seinen Briefen an Guyetus.
Nach einigen Monaten Forschung war sich der arme Bouchard keiner Sache mehr sicher. Alles, was nach den Sprüngen von Autor zu Autor, von Jahrhundert zu Jahrhundert von den uralten, gewichtigen Namen Berossos und Manetho und den vielen anderen blieb, die ihre Werke gesehen und kopiert haben wollten, waren wenige, erbärmliche Fragmente. Eine Handvoll Fälscher hätte genügt, sie allesamt zu fälschen.
Bouchard wusste nämlich nur zu gut, dass die gesamte überlieferte |538| griechische und lateinische Literatur in einen einzigen Bücherschrank gepasst hätte, und dass allein sechs oder sieben Jesuiten aus den letzten hundert Jahren, wie Salmeròn, Vazquez, Suarez, Bellarmin, Cornelius a Lapide, Raynaudus und Petavius eine vergleichbare Produktion gelungen war.
Beschreibende Passagen gab es wenige oder keine, und aus ihren Listen historischer Herrscher waren die meisten Namen verschwunden. Berossos und Manetho waren überall und nirgends, alle kannten sie und keiner hatte etwas Gewisses über sie in der Hand, sodass man sich fast fragen musste, ob es einen, keinen oder hunderttausend gab. Synkellos, der sich auf zwei ebenfalls phantasmagorische Autoren bezog, war wie ein Atemhauch an einem windigen Tag.
Bouchard hatte bereits erkannt, wie viele Lügen, oder Gotteslästerungen, wie er sie nannte, es bei den römischen Historikern gab. Ging man weiter zurück in der Zeit, sahen die Dinge nicht anders aus. Und wenn die römischen Historiker so viele gotteslästerliche Lügen erzählten, hatte es dann überhaupt Sinn, das ernst zu nehmen, was sie von anderen Autoren bezeugten, seien es Griechen, Ägypter oder Babylonier? Wie den Schlamm vom Morast unterscheiden? Wo begann der Fluss der Lüge? War es möglich, dass niemand je bemerkt und angeklagt hatte, in welchem Sumpf jeder versank, der sich auf das unbekannte Gebiet der alten und ältesten Geschichte wagte? Was andere Forscher für gesichert, ja, für selbstverständlich hielten, hing am seidenen Faden
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