Das Mysterium der Zeit
des Zweifels, der Fälschung, der Vermutung, sogar der reinen Phantasie. Vielleicht war es noch schlimmer: Bouchard ließ der Gedanke nicht los, dass alle Handschriften, die uns Heutigen überliefert wurden, denselben schwachen Punkt aufweisen, im Laufe weniger Jahre von den immer gleichen Humanisten gefunden worden zu sein. In Paris gab es mehr griechische Handschriften als in ganz Griechenland und Osteuropa zusammen. Wie war das möglich? Ebenso wenig konnte sich Bouchard erklären, wie es möglich war, dass es in den deutschen Klöstern von Manuskripten römischer Autoren nur so wimmelte, während sich in Rom selbst, trotz der neun Jahrhunderte, die das Römische Reich gedauert hatte, nicht einmal ein Satz oder ein Eckchen eines Papyrus oder Pergaments gefunden hatte. Es schien fast, als hätte das alte Rom in Wahrheit niemals auch nur eine einzige Zeile der lateinischen Literatur gekannt und das alte Griechenland kein einziges Wort der griechischen Literatur!
|539| Wie hatte der große Scaliger es nur vermocht, fragte er sich, die Erinnerungen so vieler Völker aufeinander abzustimmen und daraus ein homogenes, glaubwürdiges Gebilde zu machen, obwohl er sich ausgerechnet auf Synkellos, Berossos und Manetho gestützt hatte?
»Ich kann mich noch immer nicht damit abfinden«, sagtest du, »dass man bis vor sechzig Jahren nicht gewusst haben soll, zu welchem Zeitpunkt die ältesten Ereignisse der Weltgeschichte stattgefunden haben.«
»Aber so ist es«, entgegnete Naudé.
»Ich bin sicher, dass der größte Teil der Menschen, die lesen und schreiben können, glaubt, man habe das immer gewusst, zumindest in groben Zügen.«
»Mein lieber Junge«, sprach Schoppe dich väterlich an, »du hast ins Schwarze getroffen, weißt du das? Die Menschheit wird von Betrügern wie Scaliger, seinem Anhänger Cazzobono und ihrem schurkischen Gefolge in die Irre geführt. Diese Leute greifen erst Sachen aus der Luft, dann verkaufen sie ihre Lügen als jahrhundertealte Wahrheiten. Ich werde dir noch mehr erzählen …«
»Hör jetzt endlich mit deinem Gefasel auf, Caspar! Und findest du es angebracht, Isaac Casaubon mit diesem obszön verzerrten Namen zu belegen? In deinen Schriften gegen die Protestanten hast du diese Schweinerei in alle Himmelsrichtungen hinausposaunt. Ich finde das widerlich.«
»Du meinst Cazzobono? Ich dachte, ihr Päderasten mögt so skurrile Wortspielchen?« Schoppe grinste.
»Halt den Mund, Caspar. Lass den Signor Secretarius zu Ende erzählen!«, fauchte Naudé, der nicht nur um Guyetus besorgt war, sondern den es auch drängte, sich zu der Verabredung mit Philos Ptetès im Wald zu begeben.
»Du hast recht, lieber Gabriel. Im Grunde verdient diese Truppe billiger protestantischer Fälscher meine Aufmerksamkeit gar nicht. Bitte sehr, Ihr habt das Wort, Signor
syncellos
…«, sagt er an mich gewandt, ironisch das griechische Wort aufgreifend, das wir soeben gelernt hatten.
Je weiter Bouchard mit seiner Arbeit vorankam, fuhr ich fort, desto verwirrter war er. Wenn man über Synkellos, Berossos und Manetho arbeitete, brauchte man eine gute Portion Glauben an diese überaus |540| zweifelhaften Schriften. Viel, sehr viel Glauben und Vertrauen, genau das, was er und seine Freunde, die Starken Geister, die Tetrade, die Du Puy und die
Deniaisez
bei ihren Zusammenkünften so verlacht hatten.
Von Zeit zu Zeit ließ Kardinal Barberini ihn sehr wohlwollend und diskret wissen, dass er sich Fortschritte bei dem Projekt erwarte, und um seine Zweifel zu verbergen, machte Bouchard sich auf jede erdenkliche Weise rar.
»Hat Guyetus erklärt, was ›Chiffre der Namen‹ bedeutet? Hat es etwas mit Synkellos, Berossos und Manetho zu tun?«, fragtest du.
»Darüber hat er mir leider nichts gesagt«, antwortete ich.
In diesem Moment kehrten Kemal, Barbara und Malagigi zurück. Die Gesichter der beiden Männer waren bleich, ihre Lippen blutleer, die Augen gläsern. Sie hatten den Tod gesehen.
»Er hat sich erhängt«, verkündete Ali Ferrareses Statthalter.
DISKURS LXXXI
Darin das tragische Ende von Guyetus beschrieben wird.
»Kemal hat ihn gefunden«, erzählte Malagigi, auf den Korsar weisend. »Offenbar hat ihm der Mut gefehlt, sich von der Klippe zu stürzen, denn er hat sich an einem Ast erhängt. Doch er war zu schwer, ihr wisst ja, dass der Ärmste nicht gerade mager und auch nicht klein war. Während Kemal versuchte, den Knoten zu lösen, um ihn herabzulassen, hat der Ast nachgegeben und der Körper ist
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