Das Mysterium der Zeit
dreißig Galeeren besaßen, die sich just hinter dieser kleinen Insel versteckten. Als die Schiffe aus ihrer Deckung kamen, gab es eine Katastrophe. Die Flotte der Pisaner verlor fünfzig Schiffe, die Hälfte wurde geentert, die anderen versanken. Es gab sechstausend Tote. Zwölftausend Gefangene wurden in Ketten nach Genua gebracht. Pisa verlor durch diese Niederlage so viele Einwohner, dass damit sein Niedergang begann, der in der Eroberung Pisas durch Florenz gipfelte. Die nach Genua deportierten Gefangenen waren so zahlreich, dass man ihnen ein eigenes Stadtviertel zuweisen musste. Damals entstand das berühmte Sprichwort: ›Wenn du Pisa sehen willst, geh nach Genua‹. Offenbar sind im Laufe der Jahre weniger als tausend Gefangene in die Heimat zurückgekehrt. Die anderen blieben für immer in Genua.«
»Gut gemacht, Secretarius, du hast schön erzählt. Aber ich sage dir, das ist alles Unsinn.«
»Wie bitte?«
|705| »Klar doch. Schau dich um. Siehst du nicht, dass eine Flotte aus dreißig Schiffen sich unmöglich hinter den wenigen Steinen dieser winzigen Insel verstecken kann? Ein ausgemachter Schwindel ist das. Dreißig Schlachtschiffe lassen sich nirgendwo verstecken, nicht einmal hinter einer richtigen Insel wie Gorgona. In Kriegszeiten sind die Meere voller Spione, keine Flotte kann sich dem Schauplatz einer großen Schlacht nähern, ohne dass der Feind es bemerkt. Und weiter: Glaubst du wirklich, dass die Genueser sich viele tausend Gefangene nach Hause mitgenommen haben? Weißt du, was es kostet, tausende Mäuler zu stopfen, zu versorgen, zu regieren? Die Pisaner Gefangenen waren allesamt Soldaten, also kampferfahren. Sie als Gruppe zusammen zu lassen hätte bedeutet, mitten in Genua ein feindliches Heer zu unterhalten, das jederzeit Aufstände anzetteln konnte. Und wer gab ihnen zu essen? Sollte man sie etwa umsonst unterhalten? Oder sollte man ihnen Arbeit geben und damit zulassen, dass tausende Feinde das Leben der Stadt unterwanderten? Es ist sonnenklar, dass die ganze Geschichte ein Riesenhumbug ist, den nur Leute schlucken, die vom Meer und vom Krieg keine Ahnung haben.«
Er verstummte mit einem herausfordernden Lächeln, weil er auf eine Erwiderung von uns dreien wartete. Aber wir waren zu erschöpft, und er fuhr fort:
»Ich habe euch gut zugehört, Nazarener, als ihr euch über eure Philosophen, eure Historiker, die Zeit und all diese komplizierten Probleme, die euch so gefallen, in die Haare gekriegt habt. Und ich frage euch: Ist es möglich, dass ihr nicht sofort erkennt, was falsch ist und was nicht? Einem echten Seefahrer wie Ali Rais genügt ein Blick, um zu begreifen, ob jemand lügt oder die Wahrheit sagt. Und ihr braucht Jahrhunderte, um zu erkennen, dass eure Historiker allesamt abgefeimte Lügner sind? Ich kannte die Geschichte von der Schlacht bei Meloria schon. Viele Korsaren, die im Mittelmeer kreuzen, kennen sie. Darum habe ich dich gebeten, sie zu erzählen, Secretarius. Ich wollte sehen, ob auch du auf dieses Lügenmärchen reingefallen bist. Und jetzt antworte mir, venezianischer Kastrat! Stimmt es oder nicht, dass ihr in Venedig jahrzehntelang die ruhmreiche Schlacht von Capo Salvore auf Bildern und Wandteppichen verewigt habt, bis ihr entdecken musstet, dass die Schlacht nie stattgefunden hat?«
Vollgesogen mit Wasser wie eine Strohpuppe im Regen, fand Barbara nur die Kraft zu einem schwachen Nicken.
|706| »Siehst du?«, rief der Korsar triumphierend aus. »Immer wieder sage ich meinen Männern: je schöner und großartiger die Geschichte ist, die sie euch erzählen, desto misstrauischer müsst ihr sein. Und wenn ihr über eine Sache keine Gewissheit habt, haltet den Mund. Denkt immer daran, Nazarenerhunde! Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Er schwieg einen Augenblick lang, auf eine Antwort wartend, die nicht kam. Nur der Wind ließ sich vernehmen und die Peitsche des Regens.
»Soll ich euch etwas sagen? Ihr seid große Drückeberger, ihr Nazarener. Ihr solltet die Zeit totschlagen, stattdessen lasst ihr nur mich reden. Aber jetzt habe ich keine Puste mehr. Also macht euch an die Arbeit! Erzählt mir eine Geschichte, aber schnell!«
Wir kauerten alle am Boden, das Wasser, das von allen Seiten bis zum Rücken und zur Brust in unsere Kleider drang, war uns mittlerweile gleichgültig. Die innere Kälte, die die Gesichter wächsern und die Lippen violett färbte, ging bereits über die Grenzen der Sinneswahrnehmung hinaus, keiner zitterte
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