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Das Mysterium der Zeit

Titel: Das Mysterium der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi , Sorti
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mehr. Du, Kemal und ich waren steif wie Holzscheite, ein gut gezielter Tritt hätte uns womöglich in zwei Teile zerbrochen. Barbara dagegen war schlaff wie eine verwelkte Blume. Du bettetest ihren Kopf sanft auf deine Beine. Wir wechselten einen verwirrten Blick und sahen, dass wir den Schatten des Todes im Gesicht trugen. Ich konnte deine Gedanken lesen: Woher nahm dieser teuflische Barbareske, der dreimal so alt war wie du, bloß all seine Kraft? Wo fand er den Schwung, immer weiter zu reden?
    »Na gut, ich habe verstanden«, sagte er. »Ihr seid nicht Manns genug, eine Geschichte zu erzählen, ein bisschen Kälte genügt, und schon verliert ihr die Lust. Aber ihr wollt Historiker und Philosophen spielen, wie diese anderen Idioten, von denen ihr auf Gorgona die ganze Zeit geredet habt? Ha, geht mir doch weg! Auf den Schiffen von Ali Ferrarese könntet ihr nicht mal als Schiffsjungen anheuern!«
    In diesem Moment fielen mir die Augen zu, ich hatte keine Kraft mehr, die Lider zu heben.
    »Schlaf nicht ein, Secretarius«, mahnte mich Kemal.
    »Keine Angst, ich leide an Schlaflosigkeit.«
    »Haha!«, lachte der Barbareske. »Das ist gut, so gefällst du mir!« Kemal klapperte mit den Zähnen, sein Gesicht war marmorweiß, der Körper steif und gelähmt wie der einer Marionette.
    |707| »Woher nimmst du nur die Kraft, noch immer zu reden«, fragtest du ihn nuschelnd.
    »Ich hab’s dir doch schon gesagt, verflucht. Wenn man auf dem Meer verschollen ist, darf man die Hoffnung nie aufgeben. Niemals. Und ich finde immer einen Grund, um zu hoffen. Auch jetzt. Weil ich die Augen offenhalte. Das ist das Geheimnis des Lebens auf See.«
    »Ich glaube nicht, dass ich verstanden habe«, sagtest du, während du schwach über Barbaras Kopf strichst, der reglos auf deinen Beinen lag.
    »Egal, später wirst du verstehen.«
    Uns allen hatte die Entkräftung, die dem Ende vorausgeht, mittlerweile die Augen versiegelt. Allen außer Kemal.
    »Wann werde ich verstehen?«, fragtest du nach einem Augenblick, der Jahrhunderte dauerte.
    Der Wind heulte, der Regen war wie ein Steinhagel. In deiner belegten Stimme kündigte sich die Ohnmacht an, und ich sah deinen Kopf gefährlich schwanken. Ich wollte dir helfen, merkte aber, dass ich selbst schon schwer wie ein Stück Holz am Boden lag, das nur noch eine fremde Hand hätte bewegen können. Wenn das der Tod ist, dachte ich, geht er recht sanft vonstatten.
    »Sehr bald wirst du verstehen«, antwortete dir der Barbareske, »es fehlt nur noch ein Augenblick. Du brauchst dich nur umzudrehen und tun, was ich tue: die Augen offenhalten.«
    Kemal stand wieder auf. Mit übermenschlicher Kraft hob ich die Lider und sah, warum er aufgestanden war. Der Korsar empfing mit einem angemessenen Gruß die letzte Überraschung dieses endlosen Tages.

    Lautlos wie ein Dieb in der Nacht hatte der Eindringling sich herangeschlichen, mächtig wie eine Festung und schwarz wie der Tod.
    Er hielt in sicherem Abstand zu den Untiefen und trug gut sichtbar am höchsten Mast eine von den Matrosen aller Nationen gefürchtete Fahne mit der italienischen Aufschrift, die wir seit langem auswendig kannten:

    DIE CHRISTLICHE RELIGION IST FALSCH

    |708| Gleich einer Bulldogge mit unfehlbarem Geruchssinn hatte die Karacke von Ali Ferrarese uns gefunden.

    Noch wussten wir es nicht, doch auf dem Deck des Korsarenschiffs erwartete uns ein alter Bekannter. Und als das Beiboot uns bis zu dem großen Schiff brachte, sahen unsere Augen zwar, wollten aber noch nicht glauben.
    Von der Höhe des Schiffes aus grüßte uns jemand und lächelte seinem Kemal ergeben zu. Es war ein Mann, den jemals wiederzusehen wir nie erwartet hätten. Mit lauten Rufen und rauen Befehlen lenkte er die vier jungen Barbaresken, die uns von der Leuchtturminsel geholt hatten. Kemal rief ihm zu: »Gut so, Mustafa!«

DISKURS CVI
    Darin die Entdeckung gemacht wird, dass man nicht so schlau gewesen war, wie man gedacht hatte.
    Trotz des Sturms, der noch immer tobte, beobachtete die Mannschaft gespannt die Ankunft des Statthalters und der Nazarener.
    »Wo ist Ali Ferrarese?«, fragtest du.
    Wir starrten abwechselnd den aus dem Totenreich zurückgekehrten Mustafa und einander staunend an. Doch es war kein Trugbild, und ein Detail machte alles noch unglaublicher: Mustafa trug seinen unvermeidlichen weißen Schal um den Hals. Kemal wich unseren Blicken aus.
    Kaum waren wir an Bord, umringte die Mannschaft den Statthalter. Dann erschien auch der große

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