Das Mysterium der Zeit
Freie.
Er stellte sich an einen der Pfeiler, die den Turm stützten und betastete das Mauerwerk, bis seine Hand an einer Stelle liegenblieb. Nachdem er tief Atem geholt hatte, sprang er mit einem Anlauf auf den Pfeiler und hangelte sich hinauf, indem er seine Füße in Aushöhlungen der Mauer setzte. In den Turm waren Stufen gehauen worden, die geschickten und mutigen Männern erlaubten, den Turm zu erklimmen. Der Korsar kletterte bis auf das Dach des Turms.
Schwankend folgten wir seinem Beispiel und versuchten, seine Bewegungen nachzuahmen. Zäh um jede Stufe kämpfend, uns gegenseitig schiebend und im letzten Abschnitt von Kemal hinaufgezogen, |703| konnten wir uns schließlich alle auf das Dach des Turms flüchten. Auf diesem dem Wind ausgesetzten Höcker war der Regen unerträglich, aber das war immer noch besser, als dort unten von den Wellen ins Meer gerissen zu werden. Das Dach des Turms war voll kleiner, mit Wasser gefüllter Löcher. Wir probierten, es war kein Meerwasser, sondern frisches, süßes Regenwasser. Seit Stunden hatten wir nichts getrunken. Wir tränkten uns wie Vieh, saugten jedes noch so kleine Loch leer und leckten an den Steinen wie Säuglinge an den warmen Brüsten, aus denen die gute Muttermilch quillt.
»Hört mir gut zu, ihr drei«, sagte Kemal, während er sich den Mund mit dem Jackenärmel trocknete. »Wir müssen uns gegenseitig wach halten und dafür sorgen, dass wir nicht erfrieren, das ist alles. Früher oder später legt sich der Sturm. Wichtig ist, nicht aufzugeben und den Mut nicht zu verlieren. Manch anderer wäre in unserer Lage schon tot. Aber wir sind hier, und wir werden es schaffen. Irgendwann, in einem, drei oder zehn Tagen wird ein Schiff hier an der Meloria vorbeikommen. Und in dem Moment werden wir leben. Wir müssen nur warten und nicht an den Tod denken. Der Tod ist wie ein Magnet, wenn man allein mitten auf dem Meer ist. Man darf sich ihm nicht in Gedanken nähern, man muss einen großen Bogen um ihn machen. Wir müssen nur die Zeit totschlagen, egal wie. Überlegt doch mal, im Grunde haben wir als Schiffbrüchige ein enormes Glück: wir sind an Bord eines Schiffes aus Stein, das sich nicht bewegt und nicht untergehen kann. Ist das nicht großartig? Haha!«
Er brach in ein herzhaftes Gelächter aus und zauberte einen Augenblick lang ein Lächeln auf unsere Gesichter.
»Wisst ihr was? Auf Gorgona habt ihr Nazarener andauernd über einen Haufen Dummheiten geredet«, sagte Alis Statthalter lachend. »Die Geschichte, die Zeit … Nun, jetzt müssen wir die Zeit totschlagen! Aber nur sie darf auf diesem Turm krepieren, wir nicht! Scheiße, macht keinen Fehler, ich warne euch!« Wieder grinste er, auch wir lachten, und einen Augenblick lang mischten sich die Tränen der Verzweiflung mit denen der Heiterkeit. Dann senkte sich die Stille wieder über uns.
Auf den mit Regenwasser gefüllten Löchern zu sitzen, war unerträglich, also blieben wir stehen, bizarre Vogelscheuchen mitten im Meer, die unter den heftigen Böen schwankten. Kemal sah Barbara mit mühsam verhehlter Zärtlichkeit an, dann wandte er sich an dich:
|704| »Na los, fangen wir an. Erzähl mir eine Geschichte, kleiner Kastrat Atto Melani. Irgendeine.«
Du blicktest ihn verwirrt an, in deinen starren Augen lag nur Angst. Der Barbareske begriff, dass er den Falschen ausgesucht hatte und wandte sich an mich.
»Secretarius, du bist Toskaner. Du kennst die Geschichte dieses Turms, oder?«
Auch ich war am Ende, aber ich wollte mich nicht drücken.
»Natürlich kenne ich sie. Mal sehen … Also, vor vielen Jahrhunderten, als Livorno noch zur Seerepublik von Pisa gehörte, wurde der Turm schon als Leuchtfeuer benutzt. Dann gab es kurz vor dem Jahr 1300 eine große Schlacht in diesen Gewässern. Zwischen Pisa und Genua, den beiden großen Seerepubliken, herrschte Krieg. Am Tag des heiligen Sixtus stachen die Genueser mit dreißig Galeeren von ihrem Hafen aus in See. Die Pisaner waren in der Überzahl. Kaum hatten sie das bemerkt, verließen sie ihren Anlegeplatz, der Porto Pisano hieß, denn damals gab es Livorno noch nicht. Die beiden Flotten eröffneten den frontalen Zusammenstoß. Die Schlacht war sehr grausam, gekämpft wurde mit der Armbrust, mit kochendem Pech, mit Steinwürfen und Kalkpulver. Dutzendfach wurde geentert, es gab Tote sonder Zahl, das Meer färbte sich blutrot. Die Pisaner waren sich ihres Sieges gewiss, weil sie in der Überzahl waren, aber sie wussten nicht, dass die Genueser weitere
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