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Das Mysterium der Zeit

Titel: Das Mysterium der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi , Sorti
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Himmel, ihr Toskaner seid schon ein seltsames Völkchen«, scherzte Barbara mit einer gespensterhaft verfremdeten Stimme, während sie ihre müden Füße durch das Wasser schleppte. »Bei uns in Venedig gibt es keine Türme mitten im Meer.« Ich betrachtete die Arme. Sie war ausgezehrt von Müdigkeit und Angst wie ein Säckchen aus Knochen und Blut, das die Mühen von innen entfleischt hatten, aber sie war lebendig und wollte es bleiben. Von wegen Kastrat, dachte ich, und von wegen Frau: Dies war ein richtiger Mann.
    |701| »Du wusstest von diesem Ort, nicht wahr, Secretarius?«, fragte Kemal.
    »Ja, aber ich habe nicht gewagt, mir vorzustellen, dass wir schon so nah an diesem Turm sind. Die Strömung muss uns mit der Kraft eines Riesen mit sich gezogen haben. Wenn dieser Nebel nicht wäre, könnten wir Livorno schon sehen.«
    »Stimmt. Aber vor dieser letzten teuflischen Anstrengung müssen wir ausruhen. Kommt, wir setzen uns unter das Dach.«
    Der Turm ruhte auf vier Pfeilern, die zu zweit jeweils einen eleganten Bogen bildeten. Zwischen diesen Pfeilern konnte man sich, durch den Turm vor Regen geschützt, niedersetzen, was wir sofort mit größter Erleichterung taten. Dieses Eckchen hatte eine wunderbare Eigenschaft: es war trocken. Der Wind kam an, aber die Wellen und die Spritzer der Gischt nicht.
    »Wir sind hier am Turm von Meloria, mitten in einem Gebiet voller Untiefen, dem die Schiffe sich nicht nähern dürfen, wenn sie nicht riskieren wollen, auf Grund zu laufen. Im Sommer werden Feuer auf dem Dach des Turms entzündet, um die Seefahrer zu warnen«, erklärte Kemal.
    »Oder um vor Korsaren zu warnen«, fügte ich hinzu.
    »Jaja, auch deswegen.« Kemal lachte müde. »Darum schickt uns der geniale Ali Ferrarese manchmal mit dem Beiboot hierher, um das Feuer zu löschen und euch Nazarenern einen feinen Streich zu spielen, auf den ihr regelmäßig hereinfallt. Ach, was für ein Mann!«
    Ich betrachtete ihn. Er war klatschnass, schmutzig und stank aus den Kleidern, die ihm seit vielen Tagen am Leib klebten, aber in seinen Augen war dasselbe wilde Flackern und in seinem Körper dieselbe Lebenslust, die ich an ihm wahrgenommen hatte, als wir einander zum ersten Mal begegneten.
    Endlich kehrten wir den Wellen, die sich mit feindseligem Gemurmel an der schmalen Felsschicht der kleinen Insel brachen, den Rücken. Du, Barbara und ich saßen lange schweigend da, leichenblass, erschöpft und bis ins Mark unter Kälteschauern erzitternd, leblos auf die Steine geworfen wie die Figuren, die ich als kleiner Junge am Strand aus Algen und Muscheln formte. Keiner hatte noch Kraft zu sprechen oder die Augen offenzuhalten. Kemal ruhte aus. Manchmal öffnete er die Augen einen Spaltbreit und warf einen Blick aus dem Viereck unter den Pfeilern. Man sah die Gischt der Wellen, hier und da |702| eine Möwe und den fahlblauen Himmel, aus dem es ununterbrochen goss.
    »Verflucht, das Boot!«, schrie Kemal plötzlich.
    Wir waren soeben von einer mörderischen Welle erfasst worden, denn das Gewitter hatte sich in ein Unwetter verwandelt. Die Wellen waren doppelt so hoch wie zuvor und überfluteten nun die ganze winzige Insel bis hinauf zu den Pfeilern des Turms. Sie hatten das Boot mit sich gerissen, denn wir hatten versäumt, es aufs Trockene zu ziehen, damit es nicht von der rücklaufenden Brandung verschlungen würde. Wir waren verloren.
    Eine nächste Welle fuhr uns so heftig gegen die Beine, dass wir uns an den Pfeilern festhalten mussten, um nicht von den Steinen gespült zu werden. Barbello schrie, endlich wie eine Frau.
    »Wir holen das Boot zurück!«, schriest du und wolltest dich schon ins offene Meer stürzen, als Kemal dich packte und dir, so stark wie seine Erschöpfung es erlaubte, mit der Faust ins Gesicht schlug.
    »Wo zum Teufel willst du hin, verdammter Idiot?«, schrie er, schüttelte dich wie eine Puppe und steckte deinen Kopf zwischen zwei Pfeiler des Turms, von wo aus man unser Bötchen sehen konnte.
    Das Boot war schon sehr weit abgetrieben, fast versunken zwischen meterhohen Wellen, die es wie eine Herde tollwütiger Hunde zu zerfleischen schienen. Du begannst zu weinen, endlich wie ein Junge.
    Neue Brecher überspülten die Insel in immer kürzeren Abständen und durchnässten uns bis auf die Knochen. Es war, als wollten die kalten Zungen des Meeres unsere Beine kosten, bevor sie uns verschluckten.
    »Scheißnazarener«, fluchte Kemal, ließ uns ohne eine Erklärung unter dem Turm zurück und trat ins

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