Das Mysterium der Zeit
Anführer.
»Ali!«, grüßte Kemal ihn höflich und küsste ihm die Hände. Sogleich zog der Kommandant sich zurück, während sein Statthalter sich mit der Mannschaft unterhielt. Mustafa stand dicht bei Kemal wie die anderen Matrosen und erstattete ihm, unhörbar für uns, rasch Bericht.
Während er sprach, drehte der Statthalter uns den Rücken zu, als wollte er sich vor den Fragen schützen, die wir ihm hätten stellen können. Ich sah, wie du ihm deine Fragen im Geiste zwischen die Schulterblätter |709| bohrtest: Hast du uns nicht Mustafas Leiche gezeigt? Welches Spielchen hast du mit uns getrieben? Was war dein Plan? Wer bist du, Kemal?
Just in diesem Moment wandte der Allah ergebene Italiener, der hoffnungslose Renegat, Kemal der Lügner, sich zu uns um, als sei er nur vorübergehend abgelenkt worden. Doch er machte nur eine Handbewegung, flüsterte Mustafa etwas ins Ohr, und augenblicklich wurden wir fortgebracht.
Man behandelte uns nicht grausam, im Gegenteil. Kemal schien angeordnet zu haben, uns Misshandlungen zu ersparen. Immerhin waren wir seine Gefährten im Unglück gewesen, und der falsche Barbello noch etwas mehr. Wenn ich recht verstanden hatte, hatte der Statthalter der Mannschaft nichts über die zweifache Natur unserer Begleiterin gesagt: die Enthüllung wäre ihr übel bekommen.
Wir wurden von vier Korsaren begleitet, die uns stützen mussten, damit wir nicht vor Erschöpfung zusammenbrachen. Bevor er uns verließ, grunzte Kemal eine Art rauen Gruß, und das war alles. Jetzt, wo er an Bord wieder in Amt und Würden aufgenommen war, konnte er natürlich nicht zeigen, dass er sich mit drei dreckigen Nazarenern verbrüdert hatte.
Wir wurden unter Deck in eine kleine Zelle aus vier grob zusammengenagelten Bretterwänden gesperrt, und wie in vielen solcher Verschläge auf Schiffen war die Decke so niedrig, dass man nicht aufrecht stehen konnte. Es war eindeutig ein Käfig für den Transport von Sklaven oder Gefangenen, die isoliert gehalten wurden. Unsere Behandlung aber war geradezu luxuriös. Man gab uns ein paar alte Decken, ein paar Lumpen zum Abtrocknen, Trockenfleisch, Schiffszwieback und Wein. Nachdem wir uns den Magen ein wenig gefüllt hatten, schliefen wir sofort ein. Viele Stunden lagen wir so am Boden, fiebernd und von Kälteschauern geschüttelt, zwischen Leben und Tod schwebend. Wie im Traum hörten wir von weitem die Schreie und den Lärm der Mannschaft.
Als die Kälte ihren Griff um unsere Knochen endlich gelockert hatte, fanden wir die Kraft, ein paar Worte zu wechseln.
Eines sei klar, sagte Barbara: Kemal hatte der entsetzlichen Flucht aus Gorgona, der Kälte und Angst vor dem nahen Tod nur deshalb so gut widerstanden, weil er wusste, dass das Schiff von Ali Ferrarese in der Nähe kreuzte und bald am Turm der Meloria auftauchen würde.
|710| »Von wegen Mut«, zischte sie, »er wusste genau, dass die Seinen schon bald kommen würden.«
»Wie soll er das gewusst haben?«, fragtest du.
»Ich weiß es nicht.«
Ein Schiffsjunge versorgte uns erneut mit Nahrung und ließ uns dann hinaus, damit wir unsere körperlichen Bedürfnisse in der Backbordkabine erledigen konnten.
Als er uns zu unserem Käfig zurückführte, kam die erste Überraschung.
»Seht mal!«, riefst du aus.
Am Ende des erstickend engen Korridors, der zu unserer Zelle führte, stieß ein Matrose einige unverwechselbare Gestalten grob durch eine kleine Tür: drei Männer mit langen Bärten und verwildertem, ungepflegtem Aussehen. Wie eine Erscheinung verschwand das Trio sofort hinter der Tür.
»Das waren doch die drei Bärtigen!«, rief Barbara aus. »Was machen die denn hier?«
Von diesem Moment an konntet ihr nicht mehr schlafen, nicht einmal mehr ruhig am Boden sitzen. Ihr begannt, bei jedem Geräusch die Ohren zu spitzen, ihr spähtet in alle Richtungen und schnuppertet jedem verdächtigen Geruch nach.
Zwei schmutzige Kerle von der Rudermannschaft gingen an unserem kleinen Gefängnis vorbei.
»Heda, ihr beiden!«, riefst du, »sagt Kemal, dass wir mit ihm sprechen wollen. Wir wollen wissen, wo ihr uns hinbringt.«
»Lasst gut sein, Signorino Atto«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
Die beiden starrten dich wortlos an und schienen sich darüber zu wundern, dass wir nicht wussten, welches das uns zugedachte Los war.
Wir lauschten weiterhin angestrengt und versuchten, an den Geräuschen, die von der Brücke kamen, zu erkennen, was das Schicksal für uns bereithielt.
Alsbald folgte die zweite
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