Das Mysterium der Zeit
Absprache ausgerechnet jemandem hätte anvertrauen sollen, der alles andere als ein alter Freund war.
Das Gutachten
Diese merkwürdigen Zusammenhänge veranlassten uns, einen Blick auf die Originale der handschriftlichen Tagebücher zu werfen und sie mit den Originalbriefen zu vergleichen. Was zunächst nur ein Verdacht gewesen war, schien sich als Gewissheit herauszustellen, als wir signifikante Unterschiede zwischen den zwei Handschriften feststellten, vor allem in den Abschnitten des Tagebuchs mit heiklem Inhalt.
Unseren Zweifeln schloss sich, unter dem Vorbehalt der Verifizierung durch ein ausführliches professionelles Gutachten, ein Graphologe an: Die Tagebücher schienen, zumindest in den erotischen Abschnitten, gefälscht zu sein.
Die Fälschung der Tagebücher hätte eine Erklärung für alle Rätsel der Bouchard-Geschichte geliefert. Unser Verdacht schien sich voll und ganz zu bestätigen, als uns ein Buch aus dem Jahr 1754 in die Hände fiel, das die gesamte schriftliche Korrespondenz eines Freundes und Mitarbeiters von Bouchard, des Musikliebhabers Giovan Battista Doni, beinhaltet (Io. Baptistae Donii Patricii Florentini,
Commercium literarium nunc primum digestum editumque studio et labore An. Francisci Gorii
, Florenz 1754). Der Herausgeber der Edition, |762| Anton Francesco Gori, der Bouchard nicht kannte, fügt dem Brief vom 20. April 1641, in dem Bouchard Doni vom erlittenen Angriff berichtet, eine Anmerkung hinzu: »Hinter diesem Namen [Bouchard] versteckt sich Holstenius, den ich aufgrund der Ähnlichkeit der Schrift als Verfasser dieses Briefes vermuten würde«.
Wir suchten Originalhandschriften von Holstenius aus dem Jahr 1641 heraus. Die Handschriften von Bouchard und Holste ähnelten sich tatsächlich. Es lag nun nahe, Holste zu verdächtigen. Er war der perfekte Mann für die Fälschung der Tagebücher: Als Gräzist wie Bouchard und aller Wahrscheinlichkeit nach neidisch auf ihn, gehörte er den Kreisen der Starken Geister von Peiresc und denen der Brüder Du Puy an, war sehr eng verbunden mit Cassiano dal Pozzo und zeigte außerdem, laut graphologischer Analyse, eine große Ehrfurcht gegenüber ihm nahestehenden Personen. Kurz, es war nicht schwer vorstellbar, dass die Gruppe der
Deniaisez
den hasenfüßigen und ambitionierten Holste verleitet hatte, Bouchards Handschrift auf den gefälschten Seiten seiner Tagebücher nachzuahmen.
Da wir nun davon ausgehen konnten, dass das graphologische Gutachten unsere ersten Eindrücke bestätigen würde, geduldeten wir uns nicht bis zu seiner Fertigstellung, auch weil es länger auf sich warten ließ als vorhergesehen. Wir schrieben in der Zwischenzeit den letzten Teil des Romans, in dem wir Naudé zugeben ließen, dass Bouchards Tagebuch nach seinem Tod gefälscht worden war, und gaben ihn unseren Verlegern.
Aber manchmal übertrifft die Realität sogar die Phantasie.
Es ist vorausschickend zu sagen, dass alle fünf Graphologen, die Bouchards Tagebücher begutachteten, auf einen bestimmten Zweig der Graphologie spezialisiert sind und über langjährige Erfahrungen auf ihrem jeweiligen Gebiet verfügen: Eine Kanzlei für kriminalistische Nachforschungen und forensische Schriftgutachten (Studio dottori Andrea e. Vincenzo Faiello), die mit verschiedenen italienischen Gerichtshöfen zusammenarbeitet und drei Niederlassungen in Süditalien besitzt, koordinierte die Arbeiten des Centro di Grafologia Medica in Rom (in erster Linie ausgeführt durch dessen Gründer Dr. Enzo Tarantino, medizinischer Leiter und Universitätsdozent), des auf medizinische Heil-Hypnose und Schreiben unter Hypnose spezialisierten Psychologen Dr. Rizzica und der aus der französischen Schule kommenden Dozentin für antike Graphikstile Dr. Manetti (Präsidentin des Instituts für französische Graphologie ARIGRAF in Mailand und verantwortliche Direktorin |763| der Zeitschrift »Stilus«, für die sie die nachweisbaren Anzeichen der Nötigung in der Graphie des Abgeordneten Aldo Moros während der Zeit seiner Entführung vor seiner Ermordung durch die Terroristen der Roten Brigade erforschte).
Die Gruppe der Gutachter nahm einen Vergleich der handschriftlichen Briefe Bouchards mit dessen Tagebuchaufzeichnungen vor. Die Nachforschungen begannen mit der direkten Untersuchung der Originale, was einen gewissen Dienstreiseaufwand erforderte: Die beiden Teile von Bouchards Tagebüchern werden in Paris aufbewahrt (Bibliothèque Nationale de Paris, Nouv. Acq. Fr. 4236, und
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