Das Mysterium der Zeit
erzwungenen Abschreiben ganzer von anderen vorgeschriebener Texte geschuldet. Die schreibende Person könnte also gezwungen worden sein, diese Seiten abzuschreiben.
Die kleine Schrift und das Fehlen von Schnörkeln, die sichtbar dickflüssige aber trockene Druckstärke, verdeutlicht durch die »Knöpfe« und Kleckse formenden absteigenden Tintenspuren, und die Kantigkeit lassen dazu tendieren, diese Schrift als ›minutiös‹ zu definieren, also als eine kleine, nicht flüssige Handschrift ohne geistige Zustimmung zum Geschriebenen.
Es taucht auch das Merkmal »verwickelt« auf, das durch Holprigkeit, Stocken und Verlängerungen, aber vor allem, wie im Folgenden gezeigt wird, durch eine Verschränkung der Buchstabenstriche, die in den vorigen Mustern nicht zu finden ist, charakterisiert ist. Auch die »Verwirrungswindungen« am Ende der Worte sind zu bemerken.
All dies ist absolut nicht vereinbar mit der Hypothese, die »belasteten«
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Teile des Tagebuchs seien vor dem Brief vom 20. März 1641 geschrieben worden.
Kurz,
diese Passagen sind offenbar erst nach diesem Brief geschrieben worden, unter einem sichtlichen physisch-psychischen Zwang.
Der Schriftverlauf der Abschnitte mit erotisch-pornographischem Inhalt scheint Ausdruck der erlittenen Nötigung und der daraus folgenden wahrscheinlichen Verzweiflung desjenigen, der die Ausweglosigkeit seiner Situation sieht, zu sein:
dieselben Anzeichen sind auch in den Briefen des Parlamentsabgeordneten Aldo Moro, die er in Gefangenschaft der Brigate Rosse
zwischen dem 16. März (Tag der Entführung) und dem 9. Mai 1978, dem Tag seiner von den Brigaten angekündigten Ermordung, geschrieben hat.
Die Phänomene, die in der Schrift Bouchards anzutreffen sind, wiederholen sich analog, beispielsweise mit dem Auftauchen der Merkmale »holprig auf der Stelle« und »trocken«, die mit der Entwicklung der Situation und der Wahrnehmung der Unabwendbarkeit des eigenen schlimmen Schicksals einhergehen.
Es ist plausibel, dass eine schrittweise Vergiftung in Zusammenhang mit Substanzen, die zeitweise terrorisierende Halluzinationen provozieren, stattgefunden hat. Das Merkmal »gedrungen (zweite Form)«, das in den angefochtenen Schriften, aber nicht in den Vergleichstexten auftaucht, kann in der Tat mit Gallenentleerungen in Folge starker Vergiftung und unterdrückter Wut, die in den mit aller Wahrscheinlichkeit auf die Einnahme toxischer Substanzen folgenden Ausbrüchen zum Ausdruck kommt, einhergehen.
Die Untersuchung lässt eine kombinierte Wirkung aus allen Techniken der Bedrohung und der Nötigung vermuten.
Die wahrscheinlichste Hypothese scheint also, dass die Tagebuchseiten mit erotisch-pornographischem Inhalt im letzten Lebensmonat des Verstorbenen verfasst wurden.
SCHREIBEN UNTER HYPNOSE
: Aus der Untersuchung der geprüften Seiten kann man mit gewisser Wahrscheinlichkeit schließen, dass der Betroffene einer einwirkenden Macht ausgesetzt war, er also die untersuchten Seiten in einem Hypnosezustand verfasst hat, der von Dritten mit Hilfe von Suggestionsmitteln herbeigeführt wurde, wie sie in den Medizinerkreisen der Paracelsianer und der an der platonischen Magie orientierten Medizin vorhanden sein konnten. Allerdings zeigt die Schrift durch die Präsenz graphischer
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Merkmale, die ein Auflehnen gegen die Hypnose signalisieren, dass die Suggestion und der Versuch »magnetischer« Einflussnahme nicht ohne Gegenwehr und Qualen seitens des Betroffenen stattgefunden haben.
Das Gutachten wurde in einer Wiener Notariatskanzlei hinterlegt. Auf Nachfrage kann eine Kopie angefertigt und zugeschickt werden. Es fallen lediglich Porto und Herstellungskosten an:
Dr. Stefan Prayer
Notariatskanzlei Prayer-Rahs
Niederhofstraße 26–28/4/5
1120 Wien (Österreich)
Cassiano und Pirro Ligorio
Ist es möglich, dass Cassiano dal Pozzo (1588–1657), herausragende Persönlichkeit der intellektuellen Welt im Europa des 17. Jahrhunderts, in irgendeiner Weise die Tagebücher Bouchards manipuliert hat?
Als Bouchards Testamentsverwalter hatte Cassiano sicher eine vorteilhafte Position (einen kleinen Fehler macht Pintard,
Le libertinisme érudit
, op. cit., S. 238, der als Testamentsverwalter den Kartäuser Du Puy nennt).
Als Gelehrter, Antiquar, Kunsthändler, Vermittler von Kunstaufträgen und angesehener Geschäftemacher gehört Cassiano zu der Kategorie Mensch, der auch Elia Diodati, der unergründliche Propagandist Galileos, angehörte: Sie selbst produzierten
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