Das Mysterium der Zeit
deutsche und Schweizer Wissenschaftler mittlerweile überholt und bezeichnen ihn sogar als konservativ. Der russische Mathematiker Anatolij Fomenko, ein hoch angesehener Wissenschaftler von internationalem Ruf und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Moskau, ist zu der Überzeugung gelangt, dass die Vergangenheit in dem Maße gekürzt werden müsse, dass die Geburt Jesu um das Jahr 1000 anzusetzen sei, und fegt so zehn Jahrhunderte Geschichte weg. Um zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen, bemühte Fomenko, der ein ganzes Team von Wissenschaftlern koordiniert, diverse Disziplinen, von der Astronomie bis zur Statistik, von der Linguistik bis zur Interpretation der Hieroglyphen und antiker ägyptischer Horoskope. Fomenko veröffentlichte seine Arbeit von den Ausmaßen einer Encyclopädia Britannica größtenteils bei dem seriösen akademischen Verlag Kluwer und löste Verstimmungen und Polemiken in wissenschaftlichen Kreisen aus. Auf seinem Weg folgte er den Spuren seines Landsmannes Nicolai Morozov (1854–1946), der im stalinistischen Russland der 20er und 30er Jahre aktiv und Verfechter eines mehrere Jahrhunderte umfassenden Schnitts in der antiken und mittelalterlichen Geschichte war, weswegen er von den universitären Hierarchien des kommunistischen Russlands erbittert bekämpft wurde. Von Bedeutung war für Fomenko auch die Arbeit des amerikanischen Astronomen Robert Newton (1918–1991). In den 70er Jahren vermutete dieser amerikanische Wissenschaftler, dass eine unerklärliche Anomalie in der historischen Rekonstruktion der Mondbeschleunigung nur auf eine Weise erklärt werden konnte: indem man den
Almagest
von Ptolemäus, den berühmten ägyptischen Traktat zur Astronomie, dessen Tafeln die Bewegungen der Sterne und des Mondes beschreiben und das zahlreichen Gelehrten, einschließlich Scaliger, als Grundlage für die Berechnung der Vergangenheit diente, auf das Mittelalter datierte.
Vom
Almagest
spricht im Roman der Buchhändler Hardouin, wenn er im Diskurs LXXIII und folgenden daran erinnert, wie Ptolemäus das platonische Prinzip
sozèin ta fainòmena
, Rettung der Phänomene auf die Astronomie anwandte:
|783| Er appellierte an die Bescheidenheit, die die menschliche Wissenschaft auszeichnen muss, und warnte davor, Göttliches und Menschliches miteinander zu vergleichen. Gott allein kennt das wahre Wesen der Dinge, der Mensch braucht nur ein Rechensystem, um natürliche Vorgänge seinen Zwecken dienstbar zu machen, mehr nicht.
Dieses Prinzip von Platon und Ptolemäus nahmen Papst Urban VIII. und Kardinal Bellarmino wieder auf, als sie versuchten, es Galileo Galilei verständlich zu machen (vgl. auch in den Anmerkungen das Kapitel über Galilei):
Hat Jesus Christus, so entgegnete Maffeo Barberini seinem Freund Galileo, uns nicht offenbart, dass Gott
abba
, also »Vater« oder »Papa« ist?
Abba
, mit diesem Namen riefen die kleinen Kinder zu Jesu Zeit ihren Vater. Jesus will uns damit sagen, dass der menschliche Geist, dessen Erkenntnisfähigkeiten er doch so hoch schätzte, die Wahrheit der Dinge nicht besser versteht als ein Kindchen. Das Klügste, was wir tun können, lieber Galileo, ist also, uns mit unbeweisbaren wissenschaftlichen Kenntnissen zu praktischen Zwecken abzufinden. Im Übrigen müssen wir dem Vater vertrauen, wie die Kinder in zartem Alter es tun.
Wenn Robert Newton Recht hatte, ist der
Almagest
von Ptolemäus neben Platons Dialogen also ein weiteres Werk, das als vorchristlich ausgegeben wurde, obwohl es erst in einer Zeit nach Christus verfasst worden war. Die Vaterschaft der »christlich-affinen« Thesen von Platon und Ptolemäus würde also den Evangelien zustehen, da sie früher verfasst wurden, und die Anschuldigung, das Christentum hätte sich bereits existierender Ideen bedient, müsste fallengelassen werden.
Fomenko meint stattdessen, dass die Berechnungen zur Mondbeschleunigung wieder aufgehen würden, wenn man die »überflüssigen Jahrhunderte« in der Zeitgeschichte streichen würde.
In der unerschöpflichen Diskussion mangelt es nicht an ausgezeichneten fachspezifischen Herangehensweisen. Der bulgarische Mathematiker Jordan Tabov bewies mit auf die Numismatik angewandten statistischen Untersuchungen, dass die Funde antiker Münzen in Bulgarien in starkem Gegensatz zur traditionellen Geschichtsschreibung stehen (insbesondere zeigt sich eine ungemeine Knappheit von Münzen aus den Jahrhunderten von Illigs »Phantomzeit«) |784| und machte so den Weg zu der
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