Das Mysterium der Zeit
davon überzeugt, dass ganze Jahrhunderte aus der Geschichte zu streichen seien, und schrieb darüber sein letztes, postum veröffentlichtes Buch:
The Chronology of Ancient Kingdoms Amended
, in dem er ein neues System zu entwickeln versuchte, das die traditionellen Zeitangaben der Griechen, Römer und Ägypter verwarf und der Chronologie Scaligers widersprach. Diesen beschuldigte er, zusammen mit seinem Nachfolger, dem Jesuiten Petavius, ganze Geschichtsepochen erfunden zu haben.
Im darauffolgenden Jahrhundert behauptete der Historiker Edwin Johnson (1842–1902), der englische Übersetzer von Hardouins
Prolegomena
, dass die Zeit vom 8. Jahrhundert n. Chr. bis zum 14. Jahrhundert n. Chr. zu streichen sei. Gewiss ist die Zeit vor der Mitte des 14. Jahrhunderts aufgrund der Pest von 1348, die zwei Drittel der gesamten europäischen Bevölkerung vernichtete, schwerer zu erforschen. Man kann jedoch sicher sein, dass die wenigen Überlebenden die Situation ausnutzten, um sich mit falschen Dokumenten die Besitztümer der zahlreichen verschwundenen Familien anzueignen. Es scheint sogar, dass die großen Namen des Kapitalismus, von den Fuggern in Deutschland bis zu den Odeschalchi in Italien, die bereits um 1350 als reiche Familien auftauchten, sich mit gerissenen Handstreichen zahlreiche Besitzurkunden |781| aneigneten, die ohne Eigentümer geblieben waren (und ohne Notar, der die Originale der Dokumente verwahrt hätte …).
Lange Zeit nahm man an, dass die ägyptische Geschichte als eine gute Grundlage für die Berechnung der Zeitalter anderer Kulturen dienen konnte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellte Cecil Torr (1857–1928) jedoch einige fundamentale Daten in Frage. Ihm widersprach Flinders Petrie (1853–1942), einer der Väter der modernen Archäologie, mit dem Torr eine Kontroverse über die Geschichte Ägyptens begann, die, wie wir sehen werden, bis heute noch nicht zu Ende geführt ist.
In Deutschland vertrat Wilhelm Kammeier (1889–1959) zwischen den beiden Weltkriegen die Theorie der
großen Aktion
, also einer ausgedehnten, von der römischen Kirche koordinierten Maßnahme zur Verfälschung der gesamten westlichen Kultur vom Mittelalter an – von den im Archiv des Vatikans aufbewahrten Papstregistern bis zu mittelalterlichen diplomatischen Dokumenten. Kammeier lebte in der DDR, wo er, laut seinem deutschen Verleger, an Armut und Hunger starb. Unbequeme Thesen haben keine Freunde.
In den USA konnte sich ab den 50er Jahren der Psychoanalytiker, jüdische Arzt und Freund Einsteins Immanuel Velikovskij (1895–1979) einen umstrittenen Ruf erobern. Er entwickelte auf der Grundlage einer recht persönlichen Lesart der Bibel sowie der Mythen und Zeugnisse verschiedener Kulturen eine Theorie der planetarischen Katastrophen, die eine zeitliche Neuordnung der Zivilisationen im Mittelmeerraum (Israel und Ägypten vorneweg) vorsah. Einige Jahre lang galt Velikovskij bei amerikanischen Universitäten und Akademien als
persona non grata
und wurde unverhohlen von der offiziellen Wissenschaft boykottiert, obwohl er, vor allem mit seinem berühmtesten Werk
Worlds in Collision
, New York 1950 große Publikumserfolge feierte und hohe Verkaufszahlen erzielte. Er starb vermutlich an Diabetes und Depressionen, der Folge einer fast kompletten Ausgrenzung aus den akademischen Kreisen.
In jüngerer Zeit vertritt der Deutsche Heribert Illig in einigen Büchern und zahlreichen gut dokumentierten wissenschaftlichen Beiträgen, die oft in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern aus universitärem Umfeld entstanden sind, die Meinung, dass ein bestimmter Teil des Mittelalters (das 7., 8. und 9. Jahrhundert), der unerklärlich arm an historischen Ereignissen und archäologischen Überbleibseln, aber reich an gefälschten Dokumenten ist, nichts anderes als eine künstliche Ausdehnung der Zeit (
Phantomzeit
) darstellt, die das byzantinischen Reich zusammen mit dem Papsttum und |782| dem westlichen Römischen Reich schuf, um die Geschichte und die Zählung der vergangenen Zeitalter auf einer günstigeren politisch-ideologischen Grundlage neu zu schreiben. Das Ergebnis wäre, dass einige historische Persönlichkeiten, die für sich schon wie romanhafte Gestalten erscheinen (z.B. Karl der Große, der im 9. Jahrhundert lebte), vollständig in das ihnen gemäße legendenhafte Umfeld zurückkehren, und wir uns heute im 18. statt im 21. Jahrhundert nach Christus befinden würden.
Von Illigs Forschungen angeregt, haben ihn weitere
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