Das Mysterium der Zeit
60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erkannte man, dass an dem frommen Ort der Meditation außer den liturgischen Gesängen auch noch Unmengen brillanter Fälschungen produziert worden waren. Zum Beispiel das Epistolarium des Isidor von Pelusium, das sich bei eingehenderer Untersuchung als eine riesige Collage aus Bruchstücken anderer schon bekannter Werke herausstellte, und Isidor selbst als ein literarisches Phantom, wie die erfundenen Autoren von Andrea Darmarios. In geschickter Bastelarbeit schufen die Mönche, aus Johannes Chrysostomos schöpfend, auch das Epistolarium (über 1000 Briefe!) des heiligen Nilus. Dieselbe Technik verwendeten sie, um verschiedenen Briefe des Basilius von Caesarea zu erstellen. Auch andere berühmte anonyme oder pseudonyme Schriften wie die Areopagitica und die Erotapokriseis des Pseudo-Kaisarios sind als Lügengebilde der Akoimeten-Mönche entlarvt worden, unter denen der berühmte und skrupellose antiochenische Patriarch Petrus einen Ehrenplatz einnimmt, Empfänger aber auch Verfasser zahlreicher phantasievoller Erfindungen auf theologischem Gebiet, deren – und das ist der beunruhigendste Aspekt – eigentlichen Zweck man noch immer nicht herausgefunden hat (vgl. Gerhard Müller, Schlagwort »Akoimeten« in:
Theologische Realenzyklopädie
, XXXIV, Tübingen 2002, S. 148–153). Bedenkenswert ist auch die Tatsache, dass einige dieser gewaltigen Fälschungen erst nach 1960 und später entdeckt wurden, also erst Jahrhunderte nach ihrer Entstehung.
Die Chiffre der Namen
Wie Pater Hardouin behauptet hat, existierten die Fälschermönche also tatsächlich. Aber abgesehen vom Dilemma Fälschungen/erfundene Geschichte, das man schon in den
Prolegomena
Hardouins entdecken kann, sind es die Pariser Handschriften des Jesuiten, in denen sich seine Leitmethode findet, die der Leser durch die Lektüre unseres Romans kennenlernen konnte.
Die Chiffre der Namen (der Begriff ist unsere Erfindung) ist die Geheimsprache, die Hardouin hinter den antiken lateinischen oder griechischen Texten aufgespürt zu haben glaubt. Eingenistet in die Überschriften und die Figuren der Dialoge von Platon verstecken sich, laut dieser Hypothese, andere Worte und Sätze mit Anspielungen auf Jesus, die bezeugen, dass die Dialoge |778| erst nach dessen Tod und nicht, wie üblicherweise behauptet, drei Jahrhunderte zuvor verfasst wurden. Diese in den drei gelehrten Sprachen – Latein, Griechisch, Hebräisch – konzipierte und verfasste »Geheimsprache« sei, so Hardouin, nicht nur in den Dialogen Platons versteckt, sondern auch in Werken anderer, angeblich vorchristlicher Autoren: der großen lyrischen und tragischen Dichter (Aischylos, Sophokles, Euripides, Hesiod, Pindar, Aristophanes, Theokrit) sowie der lateinischen Poeten und Prosaiker (Cicero, Catull, Vergil, Martial). Alle seien von vorne bis hinten gefälscht, pure Erfindungen mittelalterlicher Mönche. Nach Hardouins Theorie spiegelt natürlich auch der Inhalt dieser versteckten Codes den Versuch wider, die christliche Botschaft zu verunreinigen und abzuwerten.
Eine aufwühlende These – oder vielleicht reiner Unsinn? Wie entscheidet man, ob sie auch nur in Teilen glaubhaft ist, ob sie wenigstens eine, wenn auch wackelige Grundlage besitzt?
Eine erste objektive Annäherung musste zunächst prüfen, ob die geheimnisvollen Sätze in dem dreisprachigen Code, die etwas über Jesus aussagen, aber von antiken, heidnischen Autoren geschrieben wurden, wirklich ausfindig gemacht werden konnten. Teils aus Neugierde, teils aus Abenteuerlust entschieden wir uns, diese Herausforderung anzunehmen. Was Latein und Griechisch betraf, konnten wir dank unserer schulischen und universitären Bildung ohne fremde Hilfe vorgehen. Für das Hebräische beauftragten wir zwei voneinander unabhängige Übersetzer in zwei unterschiedlichen Ländern, ohne ihnen etwas über den Zweck des Auftrags zu verraten.
Überraschenderweise bestätigte sich Hardouins Rekonstruktion: Wie die Leser anhand der wenigen Beispiele erfahren konnten, die wir aus dem umfangreichen, präzisen und äußerst komplexen Werk des Jesuiten entnommen (und zusammengefasst dargestellt) haben, scheinen hinter den Überschriften und den Figurenverzeichnissen des
Theaitetos
oder des
Parmenides
tatsächlich Sätze mit direktem Bezug auf das Evangelium hervorzutreten. Wir ergreifen an dieser Stelle die Gelegenheit, dem großen holländischen Hebraisten Ruben Verhasselt für die wertvolle Hilfe zu danken, die er
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