Das Mysterium der Zeit
Säckchen, in dem er die Gerätschaften verwahrte, die er vor der Katastrophe hatte retten können. Neben ihm saß Naudé aufrecht und wandte den Kopf nach rechts und links, |141| um noch in der Abenddämmerung eine Landzunge zu erspähen, auf die man sich flüchten konnte, oder um zu kontrollieren, in welche Richtung das Piratenschiff fuhr. Auch er trug einen großen Sack aus hartem Leder mit breiten Schulterriemen auf dem Rücken, in den er seine Kopie der Gutenbergbibel gesteckt hatte. Am Heck kauerte Schoppe zu meiner Seite. Körperlich erschöpft, aber geistig wach, brummte er auf Deutsch einige Verwünschungen gegen Ali Rais, der uns nicht in Ruhe lassen wollte, außerdem gegen alle Korsaren des Mare Nostrum und nicht zuletzt gegen Luther, Calvin und alle Ungläubigen der Erde. Doch er hatte die Freundlichkeit besessen, eine kleine Decke über deine Schultern zu legen. Ich betrachtete dich. Du warst kreidebleich, deine Augenlider sanken herab, von jener Erschöpfung gezeichnet, in die junge Menschen sich unbewusst flüchten, wenn die Dinge der Welt unerträglich werden.
»Presto arrivar la noche«, gab der lockenköpfige Korsar besorgt zu bedenken.
Er trug einen Schal aus weißem Tuch um den Hals, den er gewiss bei einem seiner vielen Überfälle auf wehrlose Handelsschiffe einem Edelmann geraubt hatte.
Wir fragten ihn nach seinem Namen.
»Me Mustafa, aber vero nom di me esta Antonio«, antwortete er.
»Antonio? Bist du auch Italiener?«, rief Malagigi erstaunt aus und hörte auf zu rudern.
Der Korsar erzählte, er sei zusammen mit seiner Mutter aus einem sizilianischen Dorf entführt und noch als Kind von ihr getrennt worden. Sein Vater wurde bei diesem Überfall der Korsaren getötet, und er erinnerte sich nicht einmal mehr an seinen Namen. Den eigenen kannte er, weil er ihn hatte behalten dürfen, obwohl er als Sklave häufig den Besitzer gewechselt hatte.
»Aber du bist doch ein Abtrünniger, du hast dich zu Mohammed bekehrt, oder?«, fragte Guyetus argwöhnisch. »Und sprichst trotzdem kein Türkisch?«
»Ich habe es euch doch gesagt«, bemerkte Pasqualini. »Diese Barbaresken sind im Grunde samt und sonders abtrünnige Italiener! Hungerleider, die ihr Glück gemacht haben, als sie mit Allahs Erlaubnis in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt sind, um plündernd und marodierend blutige Rache an ihren Landsleuten zu nehmen, denen es ein bisschen besser ging als ihnen!«
|142| Da mischte sich der Statthalter ein. Zunächst stellte er sich vor, bei den Korsaren heiße er Kemal, in Wirklichkeit aber Vincenzo.
»Mein Freund hier wurde zur Konversion gezwungen!«, rief er sodann betrübt aus. »Könnt ihr euch nicht vorstellen, dass er lieber, wie ich auch, in seiner Heimat geblieben wäre? Doch wenn man in den Barbareskenreichen überleben will, muss man die Religion des Propheten annehmen. Sonst lassen sie dich in den Sklavenbädern verfaulen. Mein Vater war ein italienischer Kaufmann, meine Mutter war Engländerin, und sie wurde mit mir von algerischen Korsaren geraubt. Man verkaufte uns an zwei verschiedene Herren und trennte uns so für immer. Aus Kummer blieb ich drei ganze Jahre lang stumm. Ich musste mich in die Konversion fügen. Also habe ich den Zeigefinger zum Himmel erhoben, und wie alle dem Koran ewige Treue geschworen. Ich habe mich beschneiden lassen, wie alle. Ich esse fast jeden Tag Fleisch und verfluche den Gott der Nazarener, wie alle. Aber wenn ich könnte, würde ich zu euch Christen zurückkehren, das schwöre ich.«
»Und warum tust du es nicht?«, fragte Hardouin.
»Weil ich nicht sterben will. Wenn eure Leute mich bestrafen, weil ich Korsar war und mich zum Galeerensklaven machen, könnte ich von den Barbaresken, die mich kennen, gefunden werden. Sie würden mir wegen des Verrats sofort die Kehle durchschneiden. Simon Danziker, der Holländer, der zu den Barbaresken übergewechselt war und dann wieder auf die Seite der Nazarener zurückgekehrt ist, wurde, kaum hatte der Bey von Tunis ihn geschnappt, in Stücke gerissen und seine Leiche in einen Graben geworfen. Der Kapitän Kara Hasan, der für Barbarossa gegen Ahmed-ben-el-Kadi gekämpft und sich dann gegen seinen Herrn aufgelehnt hatte, wurde, nachdem er geschlagen und gefangen genommen war, von Barbarossa persönlich aufgeschlitzt, denn dem lag viel daran zu zeigen, wie Verräter enden. Wer zu Mohammed überläuft und dann abtrünnig wird, der nimmt immer ein böses Ende.«
»Nazaren mucho gefährlich, aber Korsar mucho mehr
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