Das Mysterium der Zeit
bin kein Vagabund, und außerdem lese ich jede Woche ein Buch von denen, die ich hier in Nusquama gefunden habe.«
»Wo können wir ihn finden?«, fragte Hardouin, während Guyetus mit Handbewegungen den hocherregt zappelnden Naudé zu besänftigen versuchte.
»Das ist schwer zu erklären. Sicher geht er auch in die Stadt. Ich sehe ihn manchmal in dieser Gegend, mitunter aber auch an der Punta oder auf der Piana dei Morti.«
Die Punta, erklärte sie, sei der höchste Berg der Insel, und die Piana dei Morti ein alter, verlassener Friedhof. Leider weigerte die Frau sich, uns die Lage ihres Hüttchens, wie sie es nannte, zu verraten.
»Ich muss jetzt gehen«, verkündete sie kurz angebunden.
|210| »Und die Hühner? Seid Ihr nicht ihretwegen gekommen?«
»Das ist unwichtig. Ich habe noch viel mehr Hühner in meinem Hüttchen«, antwortete sie, aber es schien, dass sie sich vor allem jeder weiteren Diskussion entziehen wollte.
Das befremdliche Gespräch hinterließ bei uns allen einen bitteren Nachgeschmack des Zweifels. Wenn das Mädchen die Wahrheit über die Anwesenheit von Philos Ptetès auf der Insel gesagt hatte, wie es schien, war es dann möglich, dass alles andere gelogen war? Sie mochte vielleicht übertrieben haben, ganz sicher sogar, aber wenn es am anderen Ende der Insel wirklich eine Stadt oder wenigstens ein Dorf gab, würde es uns ein Leichtes sein, dort Nachrichten sowohl über Philos Ptetès zu erhalten als auch über einen Weg, aufs Festland zurückzukehren.
»Nicht so geheimnisvoll, Frau«, beharrte Guyetus ein wenig zu barsch. »Hilf uns, diesen Mann zu finden! Hat er dir je seinen Namen genannt?«
»O nein, mit mir hat er nie gesprochen. Nur mit einem anderen Bürger, der verbannt ist wie ich.«
»Und wo ist dieser Bürger?«, fragten wir im Chor.
»Er ist tot.«
Sie verabschiedete sich eilig, ohne auf Guyetus einzugehen, der sie erneut bat, uns bei der Suche nach Philos Ptetès zu helfen.
»Wartet, Signora!«, versuchte Hardouin sie aufzuhalten. »Ich bitte Euch, zeigt uns genau, welchen Weg wir nehmen müssen, um in die Stadt zu kommen.«
»Ihr verlasst die Torre Vecchia, schlagt den Weg vor Euch ein und geht direkt hinunter zur Stadt. Ihr könnt sie gar nicht verfehlen.«
DISKURS XXXI
Darin eine Diskussion über die Frage entsteht, ob man sich wirklich auf Gorgona befindet, und der Tag in einer sehr niedergeschlagenen Stimmung beendet wird.
Während die Frau zum Ausgang der Festung eilte, begann es zu regnen.
|211| »Ich habe noch niemanden sagen hören, dass es auf Gorgona eine Stadt gibt«, überlegte ich laut.
»Wenn es denn Gorgona ist«, wandte Hardouin ein.
»Das Weib hat gesagt, es ist nicht Gorgona«, bemerkte Malagigi vorsichtig.
»Unsere beiden Freunde aus dem Gefolge von Ali Ferrarese haben versichert, dass sie es ist«, spottete Guyetus.
Darauf gestanden du und ich, dass wir zwar vor zwei Jahren auf der Reise nach Frankreich in Gorgona vor Anker gegangen waren, aber keineswegs schwören könnten, dass die Insel, auf der wir uns jetzt befanden, dieselbe wie damals sei. Unser Schiff hatte in einer kleinen waldbestandenen Bucht angelegt, von der aus man nicht über die Wipfel der Bäume ringsum hatte sehen können. Ganz sicher aber hatten wir weder Türme, noch Städte, noch Häfen erblickt.
Das kurze Schweigen, das sich über die Gruppe senkte, war beredter als tausend Worte und offenbarte, wie gering das Vertrauen war, das alle in die Barbaresken hatten. Die Blicke richteten sich auf Kemal und Mustafa.
»Esser klaro Gorgona«, brummte Mustafa, während Kemal, die Arme verschränkt, würdevoll nickte, wie ein altes Orakel, das über den Zweifel an seinen Worten gekränkt ist.
Konnten diese beiden Galgenstricke uns nicht getäuscht und auf eine andere Insel gelockt haben, von der sie wussten, dass Alis Karacke schon bald dort anlegen würde, damit ihre Kumpane uns erneut gefangen nahmen? Mustafa und Kemal hatten beteuert, sie seien nur aus Angst vor tödlicher Rache zu Mohammed übergetreten, aber konnten wir da wirklich sicher sein? Und wenn das eine Lüge war, um unser Vertrauen zu gewinnen und uns im geeigneten Moment doch zu verraten?
Naudé ergriff seinen Sack mit dem kostbaren Inhalt und zog die Karten heraus, über denen er vor kurzem so angeregt mit seinen gelehrten Kollegen disputiert hatte.
»Hier, bitte. Da ich weiß, dass jede Reise Überraschungen birgt, habe ich mir in weiser Voraussicht ein Hilfsmittel eingesteckt. Es ist nicht das Beste seiner
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