Das Mysterium: Roman
ihr einen Stoß.
Sie lief los. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen. Berittene! Sie kamen aus dem Isartor herausgeprescht.
»Lauf!« rief Vater hinter ihr.
|16| Sie gehorchte. Sie rannte auf das Tor zu. Die Reiter passierten sie und ließen sie unbehelligt. Im Laufen drehte sie sich
um. Der Vater überquerte die Brücke, rannte anschließend über die Kiesbänke an der Isar. Ungläubig sahen ihm die Flößer nach.
Er floh wie ein weidwundes Tier, versuchte, das Steilufer zu erreichen, dort, wo der Wald fast an den Fluß heranreichte. Die
Reiter verließen ebenfalls die Brücke und galoppierten am Fluß entlang. Hufe peitschten das Wasser auf. Ein Bewaffneter sprang
vom Pferd und verfolgte Vater. Zwei Reiter lösten sich aus der Gruppe, preschten zurück zum Brückenkopf und erklommen das
Steilufer. Vater kletterte, zog sich an der Uferböschung hoch. Er rannte auf den Wald zu. Die beiden Reiter schnitten ihm
den Weg ab. Sie ritten neben ihm, einer von ihnen warf sich vom Pferd und riß Vater zu Boden.
Schwindel erfaßte sie. »Lauf!« hallte es durch ihren Kopf. Sie taumelte, wankte nach Hause. Sie sah nichts. Vor ihren Augen
riß der Bewaffnete Vater zu Boden, immer wieder.
Als Mathilde nach Hause kam, standen die zwei Hausknechte vor dem Tor, bewaffnet mit Knüppeln, und die Fensterläden waren
geschlossen. Woher wußte Mutter, was geschehen war? Die Knechte öffneten das Tor um einen Spalt und ließen Mathilde eintreten.
Im Torgewölbe war es kühl. Vom Hof her fiel Licht in den dunklen Bogengang. Der Wagen stand hier. Ein Huhn pickte bei den
Rädern nach Ungeziefer. Die Mägde hievten Mutters Kleidertruhe auf die Ladefläche. »Was tut ihr da?« fragte Mathilde.
»Die Herrin wünscht zu verreisen«, antwortete das jüngste Mädchen.
Mutter wollte fort? Mathilde zwängte sich am Wagen vorbei in den Hof und betrat durch die Hintertür die Küche. Dort packte
die Köchin unter dem großen Rauchfang Brote in eine Tasche. Mathilde fragte: »Wo ist die Mutter?«
»Sie hat sich zum Gebet in die Hauskapelle zurückgezogen.«
Mathilde eilte durch den Korridor und die Treppe hinauf. Vor der Tür zur Hauskapelle verlangsamte sie ihre Schritte und rang
sich dazu durch, kurz anzuklopfen. Dann trat sie |17| ein. Wachsduft stand in dem kleinen Kapellenraum. Mutter saß auf der steinernen Bank am Fenster. Ihr Gesicht glänzte von Schweiß,
die Haut war wie Pergament. Eine Haarsträhne hing ihr in die Stirn.
»Mutter, du kannst nicht verreisen! Sie haben Vater gefangengesetzt.«
»Das habe ich erwartet.«
»Wir müssen etwas unternehmen!«
»Nein, Mathilde.«
»Ich habe einen Spitzel gesehen, er hat ihn beim Hauptmann verleumdet. Weißt du einen Advocatus? Wir müssen uns Hilfe holen.«
»Er kennt einen Advocatus. Soll der ihm helfen.« Bitterkeit sprach aus Mutters Stimme.
»Wer könnte dahinterstecken? Eine Handelsgesellschaft, der Vater das Privileg auf ein Hämmerwerk abgejagt hat? Die Handelsgesellschaft
Drächsel, vielleicht die Handelsgesellschaft Wadler?«
Die Mutter stand auf. Mit langsamen Schritten kam sie auf Mathilde zu. Aber sie sah sie nicht an, sie blickte erst zu Boden
und dann zur Tür hinter Mathilde. »Es ist die Inquisition.«
Mathilde faßte sich an die Stirn. »Die Inquisition? Was hat Vater denn getan? Er ist ein guter Christ. Hat er nicht erst vor
kurzem den Seelfrauen drei Lämmer gespendet? Für das Leprosenhaus hat er auch gegeben. Und wir gehen regelmäßig in die Kirche.
Sie haben den Falschen gefangengesetzt!«
Jetzt blickte die Mutter sie an. »Ich verlasse die Stadt. Du bist eine kluge junge Frau, Mathilde. Rette etwas vom Vermögen!
Überschreibe es Leuten, denen du vertraust. Verschenke es – und merke dir, wem du Geschenke gemacht hast. Bald brauchen wir
Vertraute, von denen wir Gefallen einfordern können. In ein paar Tagen sind wir
banca rotta
. Die Inquisition wird allen Besitz einziehen.«
»Aber sie kann den Besitz nicht einziehen. Vater ist unschuldig!«
Die Mutter schob sich an ihr vorbei. »Ich muß fort.«
|18| Mathilde packte ihren Arm und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Du gehst nirgendwohin, Mutter. Es ist dein Mann! Wie kannst
du weglaufen, wenn er dich am meisten braucht? Ich finde das abscheulich von dir!«
»Dies sind Dinge, die du nicht verstehen kannst.«
»Vater wird womöglich gerade gefoltert! Und du bringst dich in Sicherheit.«
»Ich verhindere, daß mich die Inquisition als Zeugin vorlädt.« Die
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