Das Mysterium: Roman
Vater vorwarf, war es das falsche Urteil. Der Inquisitor erwartete etwas von ihm, etwas, das in der Verhandlung
nicht zur Sprache gekommen war. Ihr Vater hatte angeblich die Inquisition belogen, man wies ihm die Beihilfe zu mehreren Morden
nach, und, was viel schlimmer wog, stellte ihn als rückfälligen Häretiker dar. Niemand, der ein zweites Mal der Ketzerei anheimfiel,
entging dem Scheiterhaufen. Niemand.
Die Notare schüttelten ihre Streubüchsen, wie um das Urteil |23| zu besiegeln. Hatten die anderen nicht zugehört? Gab es im ganzen Saal keinen, dem die Merkwürdigkeit auffiel, nicht einmal
unter den Kaufleuten, den studierten Mönchen, den Kanzleibeamten? Dieser fremde Inquisitor wollte ihren Vater nicht sterben
lassen. Vater sollte leben und im Kerker liegen, bis sein Wille gebrochen war und er sprach. Wovon sollte er sprechen?
Ihr brach der Schweiß aus vor Angst, ihn zu verlieren. Wie er dort vorn stand, allein dem Bischof und dem Inquisitor gegenüber,
mit seinen gelockten, angegrauten Haaren, wie er die Hände hinter dem Rücken zusammenkrampfte und wieder streckte. Er war
unschuldig. Er war ihr Vater!
Das Seil knarrte über ihr, die Winde knirschte. Steinstaub rieselte auf sie nieder. Mathilde blickte auf und schaute in die
häßlichen Fratzen der Wachknechte, die sie hinabließen. Tiefer und tiefer sank der Korb. Bald sah sie die Wachknechte nicht
mehr. Das Fackellicht beschien Mauern, die sich nach innen neigten. Sie wollten sie erdrücken in einem steinernen Grab. Schließlich
setzte der Korb auf dem Boden auf. Sie stieg hinaus. Er sauste in die Höhe, die Wachknechte lachten oben, es war ein dreckiges,
furchteinflößendes Lachen. Eine Klappe schlug zu.
Suchend hob sie die Fackel. Wo war er? Fliegen summten über einem Kothaufen. Es stank süßlich. »Vater?« Ketten klirrten hinter
ihr. Mathilde drehte sich um. Da stand er. Seine Wangen waren eingefallen. Er hielt sich die Hand vor die Augen. Am Handgelenk,
wo die Schellen es umschlossen, schimmerte Eiter. Die Finger wirkten lang wie die der Affen, die sie in ihrer Kindheit im
Hof des Kaisers gesehen hatte. Damals, als Mutter noch dort arbeitete.
»Mathilde.« Seine Stimme klang heiser.
Sie trat näher. Lumpen hingen um seinen ausgehungerten, skeletthaften Leib. Die Wochen seit dem Urteil mußten für ihn hier
unten die Hölle gewesen sein. »Man wollte mich nicht zu dir lassen!« sagte sie.
»Deine Fackel. Endlich Licht, endlich ein Mensch! Die Dunkelheit ist furchtbar. Manchmal höre ich eine Krähe rufen. |24| Die muß hier irgendwo an einem Fenster hocken im oberen Stockwerk. Ich habe die Krähen immer geliebt. Sie waren meine Gefährten.
Genauso vom Wind zerzaust wie ich, genauso hungrig, genauso namenlos. Wenn ich tot bin und sie mich hier heraustragen und
die Krähen mir das Fleisch von den Knochen hacken, dann ist mir das recht. Sollen sie sich einmal den Bauch vollschlagen.
Der Herr wird mich am Jüngsten Tag schon wieder zusammensetzen.«
»Was redest du da?« Vater hatte die Krähen nie beachtet. Er war auch nicht hungrig oder namenlos gewesen.
Er senkte die Hand. Sie sah nun seine Augen. Sie glänzten fiebrig. »Der Korb, in dem sie dich von der Decke heruntergelassen
haben – im gleichen Korb werden sie mich hinaufziehen, wenn ich mein Leben ausgehaucht habe. Es dauert nicht mehr lange.«
»Vater! Warum bist du hier? Was will der Inquisitor von dir hören? Dieses Urteil ist doch ein Versuch, dich zum Reden zu bringen.«
»Schhhh. Hörst du das? Die Frau schreit schon seit Tagen. Sie will ihr Kind in Freiheit zur Welt bringen. Kannst du dir das
vorstellen, ein kleiner Mensch, geboren in dieser Finsternis, in dieser feuchten, kalten Hölle? Die Frau wird nicht aufhören
zu schreien, bis es zu Ende ist. Wenn ein Mensch so leidet, können sie da nicht Gnade zeigen?«
»Ich verstehe nichts mehr. Sie haben doch gelogen beim Prozeß. Oder nicht? Vater, bist du ein Häretiker?«
»Draußen hört man nichts von ihrem Heulen. Die Mauern sind dick. Zehn Schuh Steingefüge. Trotzdem, es sickert Wasser durch.
Wasser von draußen. Manchmal lecke ich es von der Wand.« Er lachte heiser. »Verdursten werde ich nicht. Nein. So schnell kriegen
sie mich nicht.« Plötzlich wurde er ernst. Er sah sie beschwörend an. »Wie geht es deiner Mutter?«
»Sie hat die Stadt verlassen am Tag, als man dich festgenommen hat. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Warum ist
Mutter wütend auf
Weitere Kostenlose Bücher