Das Nazaret-Projekt
schlagartig wieder wach und einigermaßen nüchtern, weil plötzlich eine eisige Hand nach seinem Herzen gegriffen hatte.
Das ist kein zufälliges Stillleben der Trauer und Einsamkeit, das ist eine subtile Warnung und ein finsteres Versprechen!
Erst jetzt bemerkte er, dass seine Kleidung schon ganz feucht und seine Finger klamm vor Kälte geworden waren. Er begann zu frieren. Wieder stieg leiser Ärger in ihm auf, diesmal Ärger über sich selbst.
Das ist doch alles wie in einem lausigen Film! Warum bin ich nicht im sonnigen, warmen Kalifornien geblieben, wo ich hingehöre, anstatt hier mit ein paar verrückten Phantasten und Egomanen auf einer verdammten Schrottinsel am eiskalten Arsch der Welt herumzuhängen?
Er legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das Spinnennetz aus stählernen Kabeln, das hoch über den Aufbauten der Insel zwischen zahlreichen Gittermasten gespannt war. Das musste die Antennenanlage des verstummten Radiosenders sein! Auf den Spitzen dieser Masten blinkten in trägem Gleichtakt rote Warnleuchten. Immer wenn die hellen Leuchtfeuer für einige Sekunden verglühten, konnte Telly schwach die Sterne am Nachthimmel sehen.
Nicht einmal dem Anblick der Sterne kann man mehr vertrauen, wie viele dieser Lichtpunkte da draußen sind wohl in Wahrheit nur künstliche Satelliten?
Nathan Brock hatte ihm nicht ohne Stolz erzählt, dass die Organisation in Kürze über einen ersten, eigenen Fernsehsatelliten verfügen würde – gebaut nach deutschen Plänen in Indien und Taiwan und von einer chinesischen Trägerrakete bereits in einen geostationären Orbit gebracht.
»Im Moment sind wir noch damit beschäftigt, die Sendestation hier auf TV-Betrieb umzurüsten. Genauer gesagt, sind wir in wenigen Tagen sendebereit. Die Rückkehr des Herrn wird nicht heimlich und unbeachtet geschehen, die ganze Welt wird Zeuge sein!«, hatte Nathan salbungsvoll geschwärmt, Hände und Gesicht theatralisch zur Zimmerdecke erhoben.
»Dieser Satellit ist der erste von einer ganzen Reihe ähnlicher Apparate, die untereinander als Relaisstationen vernetzt sein werden. Wir haben ihm übrigens den Namen ›Stern von Bethlehem‹ gegeben! Hübsch, nicht wahr?«
»Oh ja, sehr poetisch. Aber dann dürfen Sie auch die heiligen drei Könige nicht vergessen.«
»Keine Sorge, Bruder Suntide, keine Sorge. Die Herren werden kommen! Es werden sogar mehr als drei sein! Raten Sie doch einmal, wer die Könige heutzutage sein werden!«
»Politische Führer? Hohe geistliche Würdenträger?«
»It’s the economy, stupid!«
Nathan Brock hatte dabei selbstgefällig gelacht.
»Zuerst kommen die Programmdirektoren der großen Fernsehstationen und Medien der westlichen Welt, und ihre Gaben werden sicherlich wertvoller sein als Weihrauch und Myrrhe. Die Herren werden sehr um unser Wohlwollen bemüht sein, wenn sie bemerken, dass die Einschaltquoten für unser Programm wie australische Buschfeuer um sich greifen und ihnen die Zuschauer scharenweise davon laufen werden. Auf diesen Zug werden alle aufspringen wollen. Und Sie, verehrter Reverend, werden – so hoffe ich doch – bald unser Lokomotivführer in Amerika sein, Gottes tapferer Casey Jones!«
*
Deutlich hatte Telly noch Nathans siegesgewisses Grinsen vor seinen Augen, und wieder fiel der dunkle Schatten eines Zweifels auf die Seele des kalifornischen Predigers. Waren das nicht doch nur Dollarzeichen, die in den Augen des ungekrönten Königs der Tafelrunde leuchteten? Sollte das ganze Nazaret-Projekt, dessen Konturen er langsam zu erahnen glaubte, nichts weiter als ein groß angelegtes, religiös verbrämtes Täuschungsmanöver sein, hinter dem nur Profitgier und Machtpolitik standen?
Schlägt das christliche Empire in Wahrheit gar nicht wirklich zurück, als Antwort auf den bedrohlichen Vormarsch des Islam?
Eine schmale Schneise gelben Lichtes ergoss sich plötzlich auf die nassen Metallplatten des Decks, als eine der Türen zum Wohntrakt geöffnet wurde.
»Master Suntide?«
Telly erkannte die tiefe Stimme Nathan Brocks. Eine alberne Sekunde lang hätte er sich am liebsten versteckt, weil er sich schon wieder irgendwie ertappt fühlte.
»Ah, da sind Sie ja! Sie werden sich hier draußen noch erkälten. Wir sind hier leider nicht in Ihrer sonnigen Heimat, seien Sie also lieber ein wenig vorsichtig und spielen Sie nicht mit Ihrer Gesundheit!«
Lag da nicht schon wieder eine versteckte Anspielung, eine leise Drohung in dieser Zweideutigkeit?
»Einen Propheten mit Husten
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