Das Nebelhaus
»Verschwunden.«
»Clarissa war verschwunden?«
»Wir suchen sie, ich auch. Nur Leonie hilft nicht mit, sondern bleibt im Haus. Ich ziehe mit Timo los, aber draußen kann man kaum die Hand vor Augen sehen, und ich verliere Timo. Dann …«
Yasmin trank einen Schluck aus der Flasche. Sie übersprang irgendein Geschehen und knüpfte an anderer Stelle wieder an.
»Zurück im Haus gehe ich direkt von der Diele hinauf ins Badezimmer. Ich werfe die nassen Klamotten ab und dusche heiß, ich weiß nicht wie lange. Ich bin gerade dabei, mich abzutrocknen, als ich einen lauten Knall höre. Zuerst denke ich, das war eine Tür …«
Yasmin brach erneut mitten im Satz ab. Ich verhielt mich still und wagte nicht, mich zu bewegen, aus Angst, sie abzulenken. Nach einer Weile fuhr sie tatsächlich fort:
»Aber dann überkommt mich eine Ahnung. Ich weiß nicht, woher. Der Knall ist mir plötzlich unheimlich. Ich starre die Badezimmertür an, sie ist abgeschlossen, ich strecke die Hand nach dem Riegel aus. Gerade als ich ihn berühre, gibt es einen zweiten Knall. Ich höre schnelle Schritte auf dem Gang, presse das Ohr an die Tür. Ich habe das Gefühl, jemand steht auf der anderen Seite und tut dasselbe. Dann wieder Schritte, die sich entfernen. Ich weiß nicht genau warum, aber ich gehe zur Dusche und drehe sie an, bleibe daneben stehen. Dann der dritte Knall, kurz darauf der vierte. Plötzlich bin ich ganz sicher, dass es Schüsse sind. Ich öffne das Fenster. Regen schlägt mir ins Gesicht. Draußen ist es finster, aber das Haus selbst ist hell erleuchtet, ich sehe den Eingang schräg unter mir, und die Außenbeleuchtung wirft weißes Licht auf den Körper, der auf der Schwelle liegt. Beine, nur die Beine, ein schwarzer Rock, wie ihn Frau Nan getragen hat. Ich spüre einen Stich in meinem Kopf. Sofort schließe ich das Fenster und rutsche unterhalb vom Sims langsam zu Boden. Von da an starre ich auf die Türklinke. Einmal noch strecke ich den Arm aus, um einen tragbaren CD -Player anzuschalten und bis zum Anschlag aufzudrehen, und wieder weiß ich nicht, warum ich das tue. Ich denke mir, dass ich ihn ausschalten sollte, aber ich tue es nicht, ich bewege mich nicht mehr. Die Türklinke, dann der ganze Raum verschwinden langsam im heißen Nebel, der von der Dusche kommt. Die laute Musik übertönt alles: Samba. Hämmert jemand an die Tür? Mir scheint es so. Aber ich bin nicht sicher. Ich tue gar nichts. Meine Nase läuft. Das Handtuch löst sich von meinem Körper, ich bin nackt. Ich tue gar nichts. Ich tue gar nichts. Ich tue gar nichts. Samba, Nebel, das Rauschen des Wassers. Plötzlich fliegt die Badezimmertür krachend auf, und ich schreie. Die Musik, das Rauschen, das Prasseln des Regens, alles ist verstummt, es gibt nur noch meinen Schrei, der nicht enden will. Yim steht vor mir, er beugt sich zu mir herunter und …«
Erneut hielt Yasmin inne. Die Haltung, in der sie auf dem Sofa saß, könnte dieselbe gewesen sein wie damals in dem Badezimmer. Sie hatte die Beine angewinkelt und starrte ins Leere. Für einen kurzen Moment dachte ich sogar, sie würde schreien, doch sie öffnete bloß den Mund.
Schließlich kehrte sie wieder in die Gegenwart zurück. Sie sah mich kurz an.
»Das ist mein Film«, sagte sie.
Kurz darauf griff sie in eine Couchritze und zog ein Beutelchen mit weißem Pulver hervor, das sie in aller Ruhe auf den Handspiegel kippte und zu einem hübschen Faden formte, den sie wenige Sekunden später in ihre Stirnhöhle einsog.
Ich saß daneben, ratlos, was ich sagen und tun könnte. Ich sagte und tat nichts. Yasmins Film lief Tag und Nacht. Ihr Schrei hatte nie geendet. Sie schüttete Whisky und schneeweißes, sauberes, hübsches Pulver in sich hinein, um den Schrei zu ersticken.
»Verrückt, aber für die Dauer von einigen Sekunden war Yim für mich der Killer. Mein Schrei, meine Angst und sein Gesicht – all das wird in meinem Kopf immer zusammengehören, auch wenn sich später herausstellte, dass Leonie geschossen hat. Yim kam anfangs ein paarmal vorbei, meinte es gut, aber ich habe seinen Anblick nicht ertragen und ihn rausgeworfen.«
Aus mehreren Gründen brauchte ich eine Pause, und Yasmin wohl ebenfalls. Daher fragte ich: »Wo kann ich mich waschen?«
»Waschen?« Sie schien völlig vergessen zu haben, dass sie mich mit zwei Tassen Whisky übergossen hatte.
Ich fand die Toilette auch ohne Yasmins Hilfe. Minutenlang klatschte ich mir kaltes Wasser ins Gesicht, das ich mangels eines sauberen
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