Das Nebelhaus
dieser grässlichen Geschichte auf Hiddensee.«
»Yasmin hat Ihnen vor zwei Jahren fünfundzwanzigtausend Euro geschenkt?«
Sie nickte. »Von einer Rückzahlung will sie bis heute nichts wissen.«
»Woher hatte sie das Geld?«
»Ich weiß es nicht. Sie hatte nie viel. Das war ja gerade ihr Credo: mit wenig auskommen, nichts brauchen. Ein Halbtagsjob für das Nötigste, das war’s. Ansonsten rumlümmeln, malen, mit der Gruppe abhängen, bisschen Musik machen, sich mit Heilsteinen beschäftigen, ihr esoterisches Wissen vertiefen, das war ihr Leben. Und plötzlich … Ich habe ihr gesagt, sie solle mit dem Geld lieber eine lange Reise machen, die sie auf andere Gedanken bringt, nach Indien vielleicht oder Tibet oder ins bolivianische Hochland. Solche Ziele hätten sie früher gereizt. Sie könne auch eine Kur machen, in eine Klinik gehen oder drei Monate ins Kloster, um zu verarbeiten, was sie auf Hiddensee erlebt hat. Aber sie hat mir bloß den Scheck gegeben und gesagt, wenn ich ihn nicht wolle, könne ich ihn ja wegwerfen. Da habe ich ihn eingelöst.«
»Haben Sie Yasmins Adresse?«
Sie zögerte. »Bei Ihnen habe ich ein gutes Gefühl, und normalerweise kann ich mich darauf verlassen. Trotzdem – Sie sind Journalistin. Ihnen geht es vor allem um die Story, nicht um Yasmin.«
»Da täuschen Sie sich. Und das wissen Sie im Grunde auch, sonst hätten Sie mir nicht schon so viel erzählt. Ich gebe zu, dass es am Anfang eine Story war. Inzwischen … Wie oft redet man nach kurzer Zeit nur noch vom Täter! Die Hinterbliebenen und Traumatisierten sind entweder sprachlos oder werden nicht gehört. Ich will zeigen, wie die Opfer auch nach zwei Jahren noch leiden, will ihnen eine Stimme geben. Ein junger Mann, der beim Amoklauf seine Mutter verlor, hat mir kürzlich gesagt, dass er nicht darüber sprechen könne, und damit ist er bestimmt nicht allein. Nun will ich für ihn sprechen. Vielleicht ist das anmaßend. Aber ich habe hautnah erlebt, wie die Sprachlosigkeit die Betroffenen immer weiter isoliert und schließlich fertigmacht. Bitte geben Sie mir die Chance, Yasmin zu besuchen. Selbst wenn sie mir gar nichts sagt, kann ich ihr trotzdem eine Stimme verleihen, und wer weiß, im besten Fall kann ich ihre Lethargie durchbrechen.«
Karin überlegte eine Minute, wobei sie sich bei einer Buddha-Statue Rat zu holen schien. Schließlich ergriff sie einen Kugelschreiber. Sie hatte eine sehr schöne Handschrift.
»Ich hoffe, ich tue das Richtige«, sagte sie. »Yasmin geht nicht zum Therapeuten, sie spricht nicht mit ihren Freunden – vielleicht redet sie ja mit Ihnen. Wer weiß, wenn Sie es richtig anfangen … Kaputtmachen können Sie jedenfalls nicht mehr viel. Ich tue das übrigens für Yasmin, nicht für Sie.«
Als kleines Dankeschön für Karins Entgegenkommen kaufte ich einen Jahresvorrat an handgerollten nepalesischen Räucherkerzen sowie einen Schutzengeltee.
Dann brach ich auf zu Yasmins Wohnung am Kottbusser Tor in Kreuzberg.
Ich brauchte mehrere Minuten, um Yasmins Namen auf der Klingelanlage zu finden, denn viele der ungefähr drei Dutzend Schilder waren ein-, zwei- oder sogar dreimal überschrieben, und die neuen Mieter hatten ihren Namen einfach danebengekritzelt. Ein paar Klingelknöpfe waren herausgebrochen, man konnte durch die Löcher, die sie hinterlassen hatten, die Eingeweide der Anlage sehen. Eine hilfsbereite Hausbewohnerin bedeutete mir mit Zeichensprache, dass die meisten Klingeln sowieso nicht funktionierten, ich solle einfach hineingehen.
»Germinal?«, fragte ich. »Wo finde ich Germinal?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nix kennen.«
»Danke.«
Schließlich fand ich den Namen doch noch, ganz klein zwischen die durchgestrichenen Namen Bukaqi und Yildimiz gequetscht. Die Wohnung lag im Souterrain, im zweiten Hinterhaus – unterirdisch im doppelten Wortsinn. Im Hausflur roch es schimmelig, und als ich klopfte, klapperte die Tür.
Yasmin sah aus, als hätte ich sie aus dem Schlaf gerissen, aber ich begriff nach wenigen Augenblicken, dass sie etwas genommen hatte.
»Ja?«
»Hallo, ich heiße Doro. Karin hat mir deine Adresse gegeben.« Ich duzte sie sofort, weil ich sie von ihrer Biografie her – und von dem Anblick, den sie bot – als jemanden einschätzte, für den Siezen ein Zeichen von Verachtung war.
»Bist du die Geistheilerin, mit der sie mich nervt?«
»Nein.«
»Hundertprozentig?«
»Hundertprozentig. Ich bin Journalistin. Aber bevor du mir die Tür vor der Nase
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