Das Nebelhaus
klingeling bei dir? Vev, Hiddensee, Nebelhaus, Blutnacht. Ja, natürlich, ich kann es laut klingeln hören, ich bin nämlich Gedankenleserin. Und was habe ich in den letzten Minuten in deinen Gedanken gelesen? Oh, sie lässt mich rein, oh, gleich verrät sie mir was, was sie noch keinem verraten hat, oh, ich hab sie so weit, die arme, besoffene, vollgedröhnte Yasmin G., Klammer auf, vierzig, Klammer zu. Klingelingelingeling. Die Toten geilen euch so richtig auf, und die Überlebenden sind die Spielzeuge, die ihr euch dann sonst wohin schiebt.« Sie streckte mir die Tasse entgegen und kippte mir den Whisky ins Gesicht. »Raus«, rief sie. »Nein, warte, ich will nicht unhöflich sein.« Sie kippte auch noch die zweite Tasse über mir aus. »So, jetzt raus.«
Was mir in den Augen brannte, auf den Lippen bitter schmeckte, von den Haaren und vom Kinn tropfte, die Bluse benetzte und über die Brüste bis zum Bauch rann, war Yasmins Verzweiflung. Ich war ihr nicht böse, keinen Augenblick lang. Ich war auch Yim nicht böse gewesen, als er mich bei unserem ersten Treffen angefaucht hatte. Ich war nicht mal der Frau böse gewesen, die mir vor Jahren ins Gesicht gespuckt hatte, weil ihr mein Artikel über einen freigesprochenen Angeklagten, der wegen Mordes an ihrer Tochter vor Gericht stand, nicht gefiel. Nicht mal meinem Vater war ich böse, der sich sechs Jahre nach Bennys Ermordung getötet hatte, indem er mit einhundert Stundenkilometern gegen die Wand einer Fabrikhalle fuhr. In seinem Abschiedsbrief stand, dass er nichts mehr habe, wofür es sich zu leben lohne. Mich erwähnte er mit keinem Wort.
Bevor ich überhaupt auf den Gedanken komme, einem Opfer oder dessen Angehörigen böse zu sein, bin ich wenigstens einige Sekunden lang mir selbst böse, weil ich irgendetwas getan oder unterlassen habe. Aber dann sage ich mir – und nur so kann ich meinen Beruf überhaupt noch ausüben –, dass all diese Menschen im Grunde das Schicksal anklagen. Da sie es natürlich nicht zu fassen bekommen, richtet sich ihre Verbitterung gegen Journalisten, Behörden und Politiker, die vermeintlichen Helfershelfer des Schicksals. Menschen wie Yasmin Germinal billigte ich das Recht zu, mich stellvertretend für das Schicksal und die Journaille zu beschimpfen.
Mit einem Taschentuch rieb ich mir den Alkohol aus den Augen. Als ich wieder einigermaßen sehen konnte, saß Yasmin mir noch immer gegenüber. Sie hatte sich nachgeschenkt und lächelte gehässig in ihren Whisky.
Ich sagte: »Ich war dort, im Nebelhaus.«
Yasmins Lächeln verging. Sie sah mich an und ließ mich von diesem Moment an nicht mehr aus den Augen. Entweder war ich äußerst interessant für sie oder äußerst respekteinflößend, ja, vielleicht sogar gefährlich.
»Ich habe die Kreideumrisse gesehen, dort, wo die Toten lagen, am Hauseingang, auf der Treppe und oben in den Zimmern. Ich wusste aus dem Kommuniqué, wer wo niedergeschossen wurde, aber ich habe überall zuerst meinen Bruder liegen sehen, der vor dreißig Jahren gestorben ist, in einem Wald. Ich bin damals zu der Stelle gegangen – nicht sofort, erst ein paar Wochen später. Ich wusste, wo sie war, denn ich hatte oft mit ihm dort gespielt. Da waren noch ein paar Spuren, Schilder, Nummern, ein Absperrband. Und dann hörte ich ihn. Er kicherte, rief meinen Namen. Plötzlich erstickte seine Stimme, als würde ihm noch einmal die Kehle zugedrückt.«
Ich schwieg eine Weile, während Yasmin mich nur stumm ansah.
Dann fuhr ich fort: »Seither ist er an jedem Tatort, den ich begehe. Ich kann nicht ohne ihn sein. Natürlich ist er nicht wirklich da, sondern nur in meinem Kopf. Trotzdem kann ich nicht am Ort eines Verbrechens sein, mich noch nicht einmal gedanklich dorthin versetzen, ohne dass ich ein Lachen höre, dann Schreie, dann das Verstummen … Passend zu den Stimmen sehe ich Bilder, ein Film läuft ab. Wie alle Filme stellt er nur eine Fiktion dar, und dennoch ist er Realität. Er ist vorhanden. Ich stelle mir also die Erschossenen oder Erdrosselten vor, und die Sekunde, in der sie sterben. Das ist hart, sehr hart, aber ich kann nicht anders, es muss sein. Seit Benny. Mein Bruder Benny ist immer dabei.«
Wieder schwieg ich für kurze Zeit.
»Ich war auf Hiddensee. Ich habe die Umrisse gesehen, Benny gesehen, Körper gesehen, den Film, einen Sturm, Unruhe …«
»Clarissa«, flüsterte Yasmin und sank in das Sofa zurück. Ihr Blick war nach innen gerichtet, ihr Tonfall monoton.
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