Das Nebelhaus
Schutzengel, alles dummes Zeug. Wie blöd man sein kann. Auch Religionen sind nichts als heiße Luft, leere Versprechen. Entweder es gibt keinen Gott, oder wenn doch, dann ist er ein Perverser, der sich einen auf die Qualen der Menschen runterholt.« Sie lachte lauthals über diese Vorstellung. »Aber vor zwei Jahren«, fuhr sie fort, »war ich dermaßen angefixt vom Göttlichen, dass ich sogar in den Schuppen von Frau Nan eingebrochen bin, in der Hoffnung, einen heiligen Gebetsort vorzufinden.«
»Du warst im Schuppen? Ich auch.«
»Dann weißt du ja, wie das, was da drin ist, einen fertigmachen kann. Noch so ein schlechtes Omen. Zuerst die Pistole, dann die tote Katze, und dann diese Bilder. Wir waren umgeben vom Tod und haben nicht gemerkt, wie nahe er schon war und wie er näher und näher kam.« Sie wurde plötzlich ganz still.
Ich fragte: »Was hatte es eigentlich mit Clarissas Verschwinden auf sich?«
Yasmin legte sich langsam auf das Sofa, den Rücken mir zugewandt. Hatte ich vielleicht eine falsche Frage gestellt, eine, die mit dem bösen Film in Yasmins Kopf zu tun hatte? Ich entschuldigte mich bei ihr, aber sie ging nicht darauf ein. Mit geöffneten Augen lag sie zusammengekauert da.
Ich blieb noch eine Weile bei ihr. Irgendwann sagte ich: »Ich werde jetzt gehen – es sei denn, ich kann noch etwas für dich tun.«
Als sie nicht antwortete, stand ich auf. Ich war bereits an der Tür, als Yasmin fragte: »Diese Bilder, Frau Nans Bilder …«
»Was ist damit?«
»Sie sind wie eine Vorahnung. So als hätte die arme alte Frau gespürt, was ihr … was uns allen bevorsteht.«
»Ich glaube«, antwortete ich, »die Bilder waren Frau Nans Schrei.«
Yasmin, noch immer mit dem Gesicht zur Sofalehne, nickte. »Timo hat damals etwas Ähnliches gesagt.«
»Timo war auch in dem Schuppen?«
»Ja. Frau Nan hat uns erwischt, sie hat mit ihm allein sprechen wollen. Was sie ihm wohl erzählt hat?« Yasmin klang sehr müde.
Ich verabschiedete mich in nachdenklicher Stimmung.
»Kommst du irgendwann noch einmal vorbei?«, fragte sie leise.
Ich war verblüfft. »Gerne. Nächste Woche?«
»Ja, das wäre schön. Bin fast immer hier. Mach’s gut.«
»Mach’s gut.«
Ich sollte sie nicht wiedersehen.
22
September 2010
»Timo.«
»Leonie. Was machst du denn bei dem Wetter hier draußen?«
Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind frischte merklich auf. Timo war auf dem Weg vom Schuppen zum Nebelhaus. Frau Nans siebenundneunzigseitige Anklageschrift hielt er fest umklammert an den Körper gepresst.
»Ich habe dich überall gesucht. Ich muss unbedingt mit dir sprechen, und zwar allein. Man trifft dich ziemlich selten allein, weißt du das?«
Ihm stand nicht der Sinn nach einem Schwätzchen mit Leonie. »Hat das noch Zeit? Ich möchte mich gerne noch mal eine Stunde aufs Ohr legen.«
»Aber es ist wirklich sehr, sehr wichtig, dass wir reden. Gehen wir in dein Zimmer oder in meins?«
Er fand sie penetrant, traute sich jedoch nicht, sie abblitzen zu lassen. Er bestimmte Leonies Zimmer als Besprechungsraum, weil es für ihn leichter sein würde zu gehen, als Leonie bei sich hinauszukomplimentieren.
»Setz dich zu mir aufs Bett«, bat sie, und er gehorchte.
Er hatte sich noch immer nicht auf ein Gespräch mit Leonie eingestellt, seine Gedanken sprangen ständig von Vev zu Frau Nan und wieder zurück.
Doch Leonie schonte ihn nicht, im Gegenteil, sie übergoss ihn mit einem ungeheuren Wortschwall. Es ging drunter und drüber in diesem Schwall, der ein ganzes Wörterbuch an Liebeserklärungen umfasste: Verliebtheit, Schwärmerei, Träume, Sehnsucht, Leid, Hoffnung, Zärtlichkeit, Umarmung, Nähe, Tränen, Lachen, Vergessen, Nicht-vergessen-können, … Er kam nicht immer mit und verstand gelegentlich nicht, ob sie nun von der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft sprach. Sie redete sehr schnell, steigerte sich hinein und gelangte in eine Art verbalen Orgasmus.
Wirklich begriffen hatte Timo danach nur eines: Leonie liebte ihn, sie begehrte ihn, sie hatte ihn immer geliebt und begehrt, schon damals, vor fünfzehn Jahren.
Das allein hätte ausgereicht, ihn vollends zu plätten. Zwei Geständnisse an einem Tag waren eindeutig zu viel für ihn, jenes nicht mitgerechnet, das er selbst mit sich herumtrug und noch an diesem Tag loswerden wollte.
Doch es sollte noch schlimmer kommen. Plötzlich mischten sich Vokabeln in Leonies Suada, die eindeutig aus einer anderen Realität stammten. Da erst war ihm der
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