Das Nebelhaus
leise: »Und nun bitte ich dich um dasselbe. Geh nicht an die Öffentlichkeit mit dem, was du herausgefunden hast. Es ist nur eine Art Nebenprodukt und hat mit dem, worüber du eigentlich recherchierst, nichts zu tun.«
An das, was dem alten Nan nach einer möglichen Auslieferung widerfahren könnte, verschwendete ich keinen Gedanken. Ich dachte nur an die unzähligen Opfer, die er zu Tode gefoltert, erschossen, erschlagen und erhängt hatte und denen er gegenwärtig noch nicht einmal die Referenz später Reue erwies. Er hätte sich freiwillig stellen und Abbitte leisten können, stattdessen hatte er buchstäblich Gras über die Sache wachsen lassen. Sollte sich wieder einmal alles nur um den Mörder drehen? Wie oft hatte ich das erlebt.
Plötzlich standen moralische Fragen im Mittelpunkt, die ich nur allzu gut kannte: Darf man einen Mörder an ein Land ausliefern, dessen Haftbedingungen nicht unseren Standards entsprechen und das womöglich noch die Todesstrafe vollzieht? Ist ein vielfacher Mörder überhaupt zurechnungsfähig oder per se psychisch gestört? Sollte man nach vierzig Jahren einen Schlussstrich ziehen? Die Diskussionen über solche Fragen waren berechtigt, aber sie hatten immer den Täter zum Gegenstand, nicht die Opfer. Die Opfer, so schien es oft, waren Randfiguren. Wer redete noch über die abertausend Menschen, die Viseth Nan abgeschlachtet hatte? Auch wir, Yim und ich, hatten bei unserem Streit kein Wort über sie verloren.
Trotzdem war ich unschlüssig, was ich mit meiner Entdeckung anfangen sollte. Zum einen, weil ich keine Beweise hatte. Frau Nans Bilder waren eindrucksvolle Werke, jedoch keine dokumentarischen Zeugnisse. Herr Nan war inzwischen deutscher Staatsbürger, die Hürden für eine Auslieferung waren hoch. Zum anderen: Welche Frau würde ohne zu zögern den Vater des Mannes, den sie sich als Liebhaber oder mehr wünschte, ans Messer liefern? Ich wusste nicht, ob meine Geschichte mit Yim bereits beendet war oder noch fortgeschrieben würde, aber das war für meine Entscheidung ohnehin nebensächlich. So oder so, ich empfand sehr viel für Yim und wünschte ihm nur das Beste – trotz aller Vorwürfe, die ich ihm machte. Was, wenn ich eine Lawine ins Rollen brachte, die letztendlich Yim, nicht aber seinen Vater traf? Bei dieser Vorstellung wurde mein Herz schwer wie ein Stein.
Ich entschied, vorerst nicht zu entscheiden.
»Es kann sein, dass du recht hast und die Sache mit deinem Vater bloß ein Nebenprodukt meiner Recherchen ist. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist sie der Kern.«
»Das verstehe ich nicht. Wie meinst du das?«
»Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass dein Vater durchaus die Anlagen mitbringt, mehrere Menschen zu erschießen?«
Daraufhin wusste Yim eine halbe Minute lang gar nichts zu erwidern. Er ging ein paar Schritte auf dem Bürgersteig hin und her, griff sich an den Kopf, ballte die Fäuste und donnerte sie mit verhaltener Wucht auf mein Autodach. Dann schüttelte er den Kopf. »Sagst du so etwas, um mich zu provozieren, um mir irgendetwas heimzuzuzahlen?«
»Das liegt mir fern. Ich …«
»Bist du ehrgeizig, ist es das? Willst du dir mit einer konstruierten Bombenstory einen großen Namen machen? Doro, die Enthüllungsjournalistin. Doro Kagel, die einem bereits abgehakten Fall eine spektakuläre Wendung gibt.«
»Was wäre dagegen einzuwenden, solange die Wahrheit nicht auf der Strecke bleibt?«
»Deine Unterstellung ist absurd.«
»Keiner hat gesehen, wie Leonie …«
»Komm mir bloß nicht damit. Dazu hat die Staatsanwaltschaft alles gesagt, und ich weigere mich, mit dir auf offener Straße eine Gerichtsverhandlung nachzustellen, bei der du Leonie Korns Verteidigerin mimst.«
»Meinetwegen. Aber ob du es wahrhaben willst oder nicht – dein Vater ist nicht nur der Rosenkönig von Hiddensee, er ist auch das Monster vom Mekong. Findest du wirklich den Gedanken so abwegig, dass er zu den Tausenden von Gräbern in Kambodscha noch drei in Deutschland hinzugefügt haben könnte?«
»Ach, einfach so? Frei nach dem Motto, heute habe ich mal Lust, ein paar Menschen zu erschießen?«
»Er hatte Angst.«
»Oh ja, natürlich, die berühmte Angst des Mörders, die hatte ich fast vergessen.«
»Die sehr konkrete Angst, dass sein Geheimnis ans Licht kommt. Darum hat er, falsch, könnte er deine Mutter in einem Anfall von Panik erschossen haben.«
»Aha, und wieso hat er die anderen erschossen? Woher hatte er Leonies Waffe?«
»Das weiß ich nicht,
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