Das Nebelhaus
überfordert, Vev. Glaubst du etwa, ich würde dich eines Tages nicht mehr lieben, weil du auf die sechzig zugehst, wenn ich fünfundvierzig sein werde? Wir sind beide keine Dummköpfe, wir wissen, das kann passieren, ebenso wie es passieren kann, dass du mich nicht mehr lieben wirst, weil du möglicherweise genug von einem Jüngeren hast. So etwas kann man nicht vorhersehen, bei keinem Menschen, keiner Liebe.«
»Darum geht es nicht, Timo.« Sie schenkte ihm reichlich nach.
»Hör auf, mir mit Whisky die Birne zu verkleben, und sag mir: Ist es wegen Philipp? Liebst du ihn noch?«
Ihr Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an. »Ich habe ihn nie geliebt. Ich habe nie angefangen, ihn zu lieben. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich müsse es wenigstens versuchen, aber ich erinnere mich nicht mehr, ob ich es wirklich versucht habe. Ehrlich, ich weiß es nicht. Ich habe ihn gemocht und mich damit zufriedengegeben, ihn als den Vater meiner Tochter zu betrachten. Er ist ein guter Vater, und er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht. Alles andere, seine eisige Ordnungsliebe, seinen Hang zum Wichtigtun, die Inszenierung eines Idylls … Verrückt, ich will ihn gar nicht lieben.«
»Ja, aber dann …«
»Dass du nicht von selbst auf den Grund kommst, wieso ich bei ihm bleibe! Ich habe eine Tochter. Nur wegen eines Kindes, das ich mir mehr als alles andere wünschte, habe ich mit Philipp geschlafen und ihn später geheiratet. Wegen Clarissa muss ich bei ihm bleiben. Sie liebt ihren Vater, sie hängt an ihm. Einen anderen Grund gibt es nicht.«
Timo spürte, dass sie aufrichtig zu ihm war. Der Wind trug zur Ehrlichkeit bei. Sturmtief Emily wehte die Worte fort, nahm sie mit sich nach Polen, ins Baltikum, in Russlands Weite, zerstreute sie, löste sie auf bis hin zu kleinsten Partikeln. Unmöglich, sie wieder zusammenzusetzen. Vev würde ihre Worte niemals wiederholen, und kein anderer als Timo würde sie jemals gehört haben.
Er überlegte, die Familienpsychologen, Scheidungsanwälte und Glücksforscher ins Feld zu führen, um Vev klarzumachen, dass es tausend bessere Möglichkeiten für sie gab, als ihr Kind in einer lieblosen Ehe zu erziehen. Er sah ihr jedoch an, dass sie diese tausend Möglichkeiten in der vergangenen Nacht auf die Waage gelegt und für zu leicht befunden hatte. Vev war niemand, der sich überzeugen ließ, indem man auf ihn einredete.
Wie zynisch die Götter sein können, dachte er. Eine Stunde zuvor hatte er noch auf der anderen Seite gesessen und einem Menschen die Hoffnung auf Erfüllung genommen. Da hatte Leonie gelitten, nun war er an der Reihe.
»Wir sehen uns morgen also zum letzten Mal?«, fragte er.
Vev ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ja.«
»Dann war ich also doch nur ein … ein Gespiele.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt«, rief sie ungehalten, beruhigte sich jedoch schnell wieder. »Aber neulich, Timo, das ist hundert Jahre weg. Es gibt eben Augenblicke, in denen man das große Ganze vergisst, in denen man sogar vergisst, dass man eine Tochter hat, eine Ehe führt … Es ist mit uns nun einmal so gekommen, wie es gekommen ist. Das ändert nichts an den Gegebenheiten. Das Leben ist keine Schiefertafel, über die man mit einem feuchten Lappen fährt und alles auslöscht, was darauf geschrieben steht.«
In diesem Moment störte Yim sie, der um die Ecke kam und die Veranda betrat. »Hallo, Vev, Timo. Ich wollte erst an der Haustür klingeln, aber dann habe ich Stimmen gehört. Ihr seid ja ziemlich tapfer, bei dem Wind hier draußen zu sitzen. Nicht dass ihr noch fortgeweht werdet, so leicht, wie ihr beide seid.«
»Mein weiter Leinenanzug könnte mich tatsächlich in die Lüfte tragen«, scherzte Vev. »Wenn es schlimmer wird, gehen wir rein, versprochen. Übrigens – Philipp ist schon am Hafen, falls du ihn suchst.«
»Äh ja, ich gehe gleich mal rüber. Vorher habe ich allerdings noch etwas für Clarissa abzugeben, Reiskuchen von meiner Mutter.«
Vev lächelte. »Danke deiner Mutter von mir. Clarissa sitzt vor dem Fernseher. Die Teletubbies findet sie einfach unwiderstehlich. Für mich sind es nur bunte Kartoffeln mit Nasenlöchern. Du kannst durch die Verandatür reingehen, aber verrate Philipp nicht, dass ich dir das erlaubt habe. Er hat ein besonderes Verhältnis zur Haustür und der Fußmatte.«
Als Yim im Haus war, sagte Vev: »Yims Mutter hat es abgelehnt, Leonie aufzunehmen. Ich wollte sie loswerden, aber das geht jetzt natürlich nicht mehr. Die Reiskuchen
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