Das Nebelhaus
sollen wohl ein kleiner Ausgleich sein.«
Timo waren Reiskuchen, Teletubbies und der verpasste Rauswurf Leonies in diesem Moment herzlich egal. Sogar Frau Nans ungeheuerliches Geständnis verschwand wie ein dunkler Fleck in der einbrechenden Nacht. Er war trunken vor Whisky und Traurigkeit.
»Ich bin einfallsreich«, sagte er. »Ich könnte den Kontakt zu Philipp aufrechterhalten …«
Vev gab ihm ein Zeichen, leiser zu sprechen.
»Du und ich, wir könnten uns ab und zu … sehen«, murmelte Timo. »Wenigstens das. Nur sehen, weiter nichts.«
»Das wäre nicht klug, Timo. Menschen sind keine Planeten, denen es gelingt, in immer gleicher Umlaufbahn zu schweben. Die Anziehungskräfte zwischen uns sind zu groß, und früher oder später würden wir ihnen nachgeben.«
»Nein, ich schaffe das.«
»Ich aber nicht. Und selbst wenn es uns gelänge: Was nutzt uns Nähe, wenn wir sie nicht mit Intimität ausfüllen können? Wir würden uns nur gegenseitig wehtun.«
Timo grinste bitter. »Du bist sehr intelligent. Ich wünschte, du wärst ein bisschen weniger intelligent.«
Sie schenkte sich und ihm nach und drückte ihm sein Glas in die Hand. »Machst du mich irgendwann mal zu einer intelligenten Romanfigur?«, fragte sie.
»Worauf du dich verlassen kannst.«
»Ich werde jedes Buch von dir genauestens durchforsten.«
Er stieß mit ihr an, der Kloß in seinem Hals wog schwer und immer schwerer. Er spürte Tränen aufsteigen und machte ihnen und dem Kloß mit einem unverschämten Schluck Whisky den Garaus. Als er ausgetrunken hatte, verspürte er Lust, noch einmal Vevs Mund zu schmecken. Vermutlich waren sie zum letzten Mal allein, es musste daher sofort geschehen.
Er neigte sich ihr zu und küsste sie. Sie ließ es geschehen, erwiderte den Kuss sogar. Jenen Kuss, der nicht enden sollte.
Der unerwartet endete.
Eine Hand legte sich Timo auf die Schulter und zog ihn von Vev weg. Er fiel auf die Planken der Veranda. Im nächsten Moment sah er Philipp über sich stehen.
»Wenn du das noch mal machst«, rief dieser, »lernst du mich von einer anderen Seite kennen.«
Timo stand auf. »Und von welcher?«, erwiderte er. »Von hinten?«
Der Schlag traf Timo am Kinn, und er stürzte rücklings über die Verandabrüstung auf die Wiese. Sekundenlang war ihm schwarz vor Augen.
Er hörte, wie Vev rief: »Philipp! Bist du verrückt geworden? Es war doch bloß ein Kuss.«
»Dann soll ich ihm wohl noch dankbar sein, dass er dich nicht vergewaltigt hat?«
»Er … er hat mir den Kuss nicht aufgezwungen.«
Drei, vier Sekunden lang war nur das Heulen des Windes zu hören.
»Wie war das?«, fragte Philipp.
»Du hast mich schon verstanden.«
»Du meinst, du … du hast ihn geküsst?«
»Herrgott, Philipp, möchtest du, dass ich dir eine Skizze zeichne? Er hat mich geküsst, und ich habe mich küssen lassen.«
Die Kinnlade fiel ihm herunter. »Von dem da? Dieser halben Portion? Er könnte beinahe dein Sohn sein.«
»Er ist aber …«
Sie hielt inne, und während Timo sich halbwegs aufrappelte, hoffte er, dass sie »mein Liebhaber« oder »mein Geliebter« oder »meine Zukunft« sagte. Dafür hätte er gerne noch ein Dutzend Kinnhaken in Kauf genommen.
Sie überlegte noch, was Timo war, da hörte man aufgeregte Stimmen, die von weit her nach Philipp riefen.
Zwei Männer kamen herbei, die wild gestikulierten. »Wo bleibst du denn? Wir brauchen dringend die Taue. Hast du sie? Wo sind sie denn? Beeil dich!«
Eingeklemmt zwischen der Pflicht, die Boote zu vertäuen, und dem Wunsch, seine Frau zu vertäuen, entschied Philipp sich für die Boote. Allerdings nicht, ohne Timo vorher in die Schranken zu weisen.
»Halte dich von ihr fern«, sagte er. »Wenn ich dich auch nur auf Armeslänge von ihr entfernt erwische, prügele ich dich ins Meer. Worauf wartest du noch? Ich will sehen, dass du verschwindest.«
Timo zog sich zurück. Noch vollständiger, noch schmählicher konnte eine Niederlage kaum sein. Doch was hätte er tun sollen? Kämpfen? Um was oder wen? Um eine Frau, die ihn nicht wollte? Er hatte kein Gelege zu verteidigen, keines zu erobern. Und Trotz hatte er immer schon für eine äußerst primitive Reaktion gehalten. Philipp hatte gewonnen.
Er ging ums Haus herum, noch unschlüssig, wo er seine Wunden lecken sollte. Ohne zu überlegen, lief er zum Strand, ganz nah ans aufgepeitschte Meer. Der Wind war so stark, dass er ihm das T-Shirt, sooft er es auch in die Shorts stopfte, gleich wieder herausriss. Noch war die
Weitere Kostenlose Bücher