Das Nebelhaus
wohnen Sie?«
»In Frankfurt am Main. Ich bin bei einer Cateringfirma, die unter anderem für die Filmstudios Babelsberg arbeitet. Hier im Schlosspark hatten wir einen Dreh. Könnten wir jetzt bitte zur Sache kommen?«
Ich deutete auf eine Bank im Schatten mit Ausblick auf Schloss Sanssouci. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns setzen?«
»Damit das klar ist«, sagte er, sobald wir uns gesetzt hatten, »ich mache das hier nur, damit Leonies Mutter nicht unwidersprochen ihren Stuss erzählen kann. Die Frau hat doch keine Ahnung. Schießen Sie los, fragen Sie, Sie haben noch genau zwölf Minuten.«
Ich sah auf die Uhr. »Gut, dann haben Sie zwölf Minuten, mir von Leonie zu erzählen. Vielleicht sagen Sie mir erst mal, wie Sie Leonie kennengelernt haben, was Sie an ihr gemocht, was Sie weniger gemocht haben, ob Ihnen in den Jahren der Beziehung irgendetwas an Leonies Verhalten besonders unangenehm aufgefallen ist. Auch wie Sie die Nachricht von Leonies Amoklauf verkraftet haben und wie Sie heute über Leonie denken, interessiert mich. Alles, was Ihnen einfällt.«
Er brach unvermutet in schallendes Gelächter aus, sodass die anderen Parkbesucher denken mussten, ich hätte ihm den Witz des Jahrhunderts erzählt.
»Mann, das ist fast so gut wie Sex«, sagte er und wischte sich eine Lachträne aus dem linken Auge.
Dabei verrutschte ihm die Kontaktlinse, die er umständlich zurechtrücken musste, was ihn – gelinde gesagt – ziemlich blöde aussehen ließ und mich eine Minute der limitierten Zeit kostete.
»Okay«, sagte er schließlich. »Ich sehe schon, Sie haben keinen blassen Schimmer, was Sache ist. Dann liefere ich Ihnen jetzt mal einen Knaller. Warten Sie ab, ich werde Sie nicht enttäuschen.«
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, und ich muss zugeben, dass er es schaffte, mich neugierig zu machen.
»Ich habe Leonie bei einer Kirmes kennengelernt, im Bierzelt. Wir saßen zufällig nebeneinander auf einer dieser langen Bänke. Sie war mit einer Kusine da, ich mit zwei Kumpels. Das war vor vier Jahren, im Sommer. Ich habe gleich gemerkt, dass sie auf mich steht, sie hat mich mit den Augen geradezu aufgefressen. Na ja, ich war geschmeichelt, wir haben getanzt, waren lustig, haben uns für den nächsten Abend verabredet – und da hat es Rums gemacht. Wir haben uns vier, fünf Tage in Folge gesehen. Leonie war super, sie hat sich total auf mich eingelassen, mir E-Mails geschrieben, die eher Hymnen waren, und ehe ich es mich versah, waren wir ein Paar. Anfangs lief es prima, aber bald fingen die Schwierigkeiten an. Leonies komplizierter Charakter … Oder nein, so kann man das nicht sagen, da fängt das Problem ja schon an. Leonies Charakter gab es nicht. Sie konnte fast alles sein: hilfsbereit, offenherzig, verschlossen, romantisch, zärtlich, intrigant, aufbrausend, rasend vor Wut, mitfühlend, und zwar an einem einzigen Tag.«
»Können Sie mir ein Beispiel geben?«
»Leonie war sehr kinderlieb. Dass sie Erzieherin war, wissen Sie bestimmt. Außerdem hatte sie eine Patenschaft für ein Mädchen in Peru übernommen, dem sie monatlich Geschenke schickte. Zugleich war sie extrem kinderfeindlich, sobald Kinder ihr irgendwie in die Quere kamen. Einmal hat sie einem Mädchen, das sie auf der Straße angerempelt hatte, das Waffeleis aus der Hand geschlagen. Es war, als würde ein Schalter umgelegt. Eines Tages meinte sie plötzlich mitten in einem bis dahin guten Gespräch, ich fände sie hässlich oder fett oder abstoßend oder was weiß ich. Schräger Unsinn. Sie hatte ein paar Pfund zu viel, na und? Ich habe Leonie nie hässlich gefunden. Sie aber hat sich in solchen Momenten durch nichts davon überzeugen lassen. Sie hatte meinen angeblich verächtlichen Blick bemerkt, es folgte langes Geschrei und Geheule, irgendwann war dann Ende der Diskussion. Dasselbe konnte mir mit einer Geste oder einem Gesichtsausdruck passieren, in die sie irgendetwas hineininterpretierte. Anfangs habe ich das für weibliche Überspanntheit gehalten – Sie wissen bestimmt, was ich meine.«
»Ich ahne es. Nebenbei gesagt, kenne ich genug männliche Überspanntheiten. Wann ist Ihnen aufgefallen, dass bei Leonie mehr als nur das vorlag?«
»Ich trinke weder Kaffee noch Tee, überhaupt kein Koffein, dieses üble Zeug ist Gift für den Körper. Leonie zuliebe kaufte ich mir eine Kaffeemaschine und Pulverkaffee, damit sie sich bei mir wohlfühlte. Eines Tages hatte ich vergessen, neuen Kaffee zu besorgen, und sie warf mir vor, ich
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