Das Nebelhaus
Luft trocken, aber die schwarze Wand hatte Hiddensee fast erreicht. Die Gischt, die ihm ins Gesicht spritzte, wischte er nicht weg; sie ersetzte die Tränen des Verlusts, die er sich nicht gestattete.
Er geriet ins Vogelschutzgebiet, dessen Zaun an einer Stelle umgefallen war. Dünensand flog ihm um die Ohren, hielt ihn jedoch nicht davon ab, bis zur Bucht vorzudringen, der Bucht des vorgestrigen Tages, Genoveva Bay. Sie war nicht mehr da, war überflutet, von Wellen bedeckt, untergegangen. Es kam Timo vor, als hätte Sturm Emily die schönste Stunde seines Lebens ausgelöscht.
Noch nie hatte er mehr verloren als in den letzten Minuten. Es war auch noch nie um so viel gegangen: um eine Frau, um ein neues Leben, um Liebe, um Glücksgefühle, um die Zufriedenheit mit sich selbst, weil er etwas erreicht, etwas geschafft hatte … Vev hatte ihn gelobt. Das hatten andere zwar auch schon getan, zum Beispiel Leser oder Freunde, aber das war nicht annähernd so wertvoll, denn sie alle liebte er nicht. Das Lob eines geliebten Menschen ist ein Pokal aus reinem Gold. Einen hatte Timo von Vev als Autor bekommen, einen als Liebhaber. Nach Vevs Worten und Blicken, ihren Berührungen und Küssen verlangte es ihn wie einen Junkie nach dem nächsten Schuss.
Er kämpfte sich unter Mühen zurück. Die ersten Tropfen fielen, zaghaft noch, als sanfte Vorboten von etwas Zornigem. Über die Veranda gelangte er ins Wohnzimmer, wo Clarissa noch immer vor dem Fernseher saß. Bernd das Brot war offenbar interessanter als Timo, denn sie sah ihn nicht ein einziges Mal an, während er den Raum durchquerte.
In der Küche machte er sich einen heißen, starken Kaffee, den er – wie vorhin den Whisky – in kleinen Schlucken trank. Er hatte nicht das Gefühl, betrunken zu sein, obwohl er drei volle Gläser geleert hatte.
Auf dem Weg in sein Zimmer begegnete er niemandem. Ruhelos lief er hin und her, setzte sich erst auf das Bett, dann an den kleinen Schreibtisch. Seine Hand glitt an dem angespitzten Bleistift auf und ab, auf und ab, auf und ab, immer schneller, immer verzweifelter. Er hatte den Blick auf das jüngferlich weiße Papier gerichtet, mit der Lust, es zu beflecken, ihm sein Siegel und sein Leid aufzudrücken – auch um gegen das Verschwinden des vorgestrigen Tages anzuschreiben. Doch er unterließ es. Plötzlich widerte es ihn an, dass er jede seiner Untüchtigkeiten und Niederlagen mit Schreiben kompensierte.
»Elender Schwächling«, flüsterte er sich zu, und er sah wieder und wieder vor sich, wie er sich von Philipp hatte verjagen lassen.
Er ging zum Fenster. Dort sah er, wie Yasmin ins Nebelhaus zurückkehrte. Es war Nachmittag, und die Finsternis begann, die Erde zu bedecken.
Für Leonie hatte die Leere ein Gewicht. Was die meisten Menschen als baren Unsinn abtun würden – wie konnte etwas, das weder vorhanden war noch vermisst wurde, jemanden belasten? –, war für sie beinahe tägliche Realität. Die Leere drückte mit unsichtbarer Kraft auf ihren Körper. Nicht auf einen bestimmten Körperteil wie Kopf oder Brust oder Bauch, sondern auf alles.
Sie spürte die Macht der Leere in den Fingern, die manchmal keine Lust mehr hatten, sich zu rühren, spürte sie in den Beinen, die nicht laufen wollten, im Herzschlag, der wie das Ticken einer Uhr das sinnlose Verstreichen der Sekunden, der Stunden markierte. Sie spürte es auch an der wie zugeschnürten Kehle, auf den Augenlidern, die sich verzagt schlossen und verzagt wieder öffneten, auf den Ohren, die sie in manchen Augenblicken hasste, wenn das Telefon oder die Haustür klingelte, wenn ein Hubschrauber das Dorf überflog, eine Hupe ertönte oder wenn die Kinder, auf die sie aufpasste, zu sehr lärmten. Sie hatte über das Gewicht der Leere in einem Physikbuch gelesen: Luftdruck. Auf der Venus war er angeblich so stark, dass ein Mensch dort auf der Stelle zu Brei zerdrückt würde. War es nicht von ätzender Ironie, dass ausgerechnet jener Planet, der den Namen der Liebesgöttin trug, alles Leben zerquetschte? Ein ähnlicher Druck lastete seit Jahren auf ihr, nur eben auf geistige, nicht physikalische Weise.
Während sie regungslos auf dem Bett lag, ließ sie die Jahre der Qualen an sich vorüberziehen: der dunkle Keller, in den ihr Vater sie dann und wann gesperrt hatte, die Katze, ihre einzige Gefährtin in diesem Kerker, die durch das Fenstergitter in die Freiheit schlüpfte, wenn sie von Leonie genug hatte, Steffens fieses Lächeln, wenn sie sich vor dem Ausgehen
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