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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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kommst, ich muss noch den Punsch vorbereiten.«
    20. Januar 2009, neunzehn Uhr sechsundfünfzig: »Wo bleibst du denn? Der Punsch ist fertig.«
    20. Januar 2009, zwanzig Uhr siebenundzwanzig: »Du mieser Arsch, du bist echt so was von mies. Scheißkerl.«
    So ging das an jedem Tag. Mal kochte sie ihm sein Lieblingsessen, mal verabredete sie sich mit ihm auf einen Spaziergang, mal lud sie ihn zu ihrem Geburtstag ein – ohne dass es je zu einem direkten Kontakt zwischen ihnen gekommen wäre. Ihr letztes richtiges Telefonat hatten sie Ende Dezember 2008 geführt. Danach ließ Steffen ihre Anrufe ausnahmslos auf die Mailbox auflaufen, was Leonie nicht daran hinderte, ihn anzuflehen, zu beschimpfen, zu bedrohen, einzuladen, auszuladen oder ihm Komplimente zu machen … Manchmal sprach sie zehn Minuten lang auf das Band. Mit der Zeit wurden die Anrufe etwas seltener, aber es verging kein Tag, ohne dass sie sich meldete. Er wechselte die Nummer, aber Leonie bekam sie durch einen Trick heraus.
    Im März 2009 versprach sie ihm, einen Schal in seiner Lieblingsfarbe Blau zu stricken, und im September 2009 war er fertig. Plötzlich stand sie vor Steffens Wohnung, das erste Mal nach der Trennung vor neun Monaten. Er tat genau das, was jemand in einem Internet-Blog in Fällen von Stalking empfahl: Er ging einfach an ihr vorbei, würdigte sie weder eines Wortes noch eines Blickes, ganz egal, was sie sagte. Sie klingelte eine Stunde lang Sturm, bis die anderen Hausbewohner sie verjagten. Am nächsten Morgen fand er den Schal in einer Tüte vor seiner Tür.
    Sie strickte ihm warme Socken, Kissenbezüge, Handschuhe, einen Kannenwärmer und stopfte sie in seinen Briefkasten oder hängte sie ihm an die Türklinke. Einmal schaffte sie es sogar, ihn bei der Arbeit zu überraschen. Ihre Anrufe setzten sich fort, aber der Stil änderte sich. Leonie fing nun an, ihm aus ihrem Alltag zu erzählen: Ich habe heute dies gemacht oder das gekauft oder die und den getroffen, ganz so, als wäre sie noch immer mit Steffen zusammen und hätte ihn bloß verpasst.
    24. November 2009: »Hallo, schade, dass ich dich nicht erreiche. Ich war vorhin im Reisebüro und habe einen Stapel Kataloge von Karibikinseln mitgebracht. Die sollten wir mal durchgehen. Ein Hotel auf Grenada gefällt mir besonders gut, aber ich will nichts vorwegnehmen.«
    8. Dezember 2009: »Heute Abend ist die Weihnachtsfeier vom Kindergarten. Ich rufe dich morgen an und erzähle dir, wie es war.«
    Anzeige erstattete Steffen Herold nie, er war aber nach eigener Auskunft mehrmals kurz davor. Er bewahrte die Mailbox-Nachrichten nur für den Fall auf, dass die Situation weiter eskalierte. Ich hatte den Eindruck, sein männliches Ego ließ nicht zu, dass eine durchgeknallte Frau ihn kleinkriegen würde und ihm womöglich eine Polizist in aus dem Schlamassel helfen musste. Aus demselben Grund schaltete er wohl auch Margarete Korn nicht ein, von der er ohnehin wenig hielt. Was er vielleicht ahnte, aber nicht sicher wusste, war die Tatsache, dass Leonie weder ihrer Mutter noch ihrer Kollegin oder irgendjemandem sonst von der Trennung erzählt hatte. Die Schals, Handschuhe und Kannenwärmer hatte nicht Leonie, sondern Mutter Korn gestrickt, in dem Glauben, ihrem künftigen Schwiegersohn Gutes zu tun.
    Alles, was ich von Steffen Herold erfahren und gehört hatte, war deprimierend. Was mich jedoch wirklich erschütterte, waren Leonies letzte Nachrichten auf dem Band, angefangen mit dem Morgen ihrer Abfahrt nach Hiddensee bis hin zum 5. September um dreiundzwanzig Uhr elf, rund eine Stunde vor den Schüssen.
    »Steffen, bitte komm her und hol mich ab. Du musst mir helfen. Bitte, bitte, ich brauche dich. Hier geht alles kaputt. Oh mein Gott, es tut so weh. Alles, alles tut so weh. Bitte, bitte, bitte, Steffen …«
    »Steffen, Steffen. Ich bitte dich, nur dies eine Mal, hilf mir. Der Sturm … Da war dieses Gesicht, die Dunkelheit. Nimm den Hörer ab. Ich weiß, du bist da. Geh ran. Hier … passiert etwas. Clarissa ist fort. Alle sind draußen, weit weg. Ich höre Schritte. Ich werde sterben, Steffen. Hörst du mich? Ich werde sterben …«

26
    September 2010
    Leonie entzündete die Zigarette und setzte sich an den Spiegeltisch. Bedächtig öffnete sie ihre Bluse, streifte sie ab. Mit dem Büstenhalter machte sie dasselbe. Trotz ihrer Fülle hatten Leonies Brüste eine gewisse Straffheit bewahrt; sie waren das Einzige, das Leonie schon immer an ihrem Körper mochte.
    Sie beobachtete im Spiegel,

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