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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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Tochter überall, hörst du? Überall! Habt ihr schon in den Schränken nachgesehen?«
    Alle nickten, außer Leonie.
    »Unter den Betten auch? In den Duschkabinen?«
    Wieder nickten alle, außer Leonie.
    »Habt ihr Yim angerufen?«
    »Wieso Yim?«, fragte Philipp.
    »Er war vorhin kurz hier, um Clarissa Reiskuchen zu bringen.« Plötzlich brach Vev in Tränen aus. Sie stützte das Gesicht in die Hände und schluchzte: »Wäre ich doch bloß nicht in den Wintergarten gegangen! Hätte ich doch bloß nach Clarissa gesehen! Ich habe den Fernseher gehört und dachte, es sei alles in Ordnung. Wer weiß, vielleicht war sie da schon nicht mehr … Oh mein Gott.«
    Philipp lief rot an. Er presste die Lippen zusammen, um etwas zurückzuhalten, doch es gelang ihm nicht. »Du hattest deine Gedanken wohl bei jemand anders.«
    Timo hätte Philipp am liebsten eine reingehauen. Vevs Verzweiflung machte ihn fertig. Er dachte daran, dass sie nun schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage nervlich am Ende war. Zuerst war eine Waffe verschwunden, nun Clarissa. Yasmin und Philipp stand der gleiche Gedanke ins Gesicht geschrieben, doch keiner wollte den Zusammenhang offen herstellen. Sie hüteten ihn wie ein peinliches Familiengeheimnis, jeder für sich.
    Die Anwesenden sahen sich gegenseitig an und begriffen mit einem Mal den Ernst der Lage. Ein fünfjähriges Mädchen war irgendwo da draußen.
    »In Ordnung«, sagte Philipp im Ton eines Spähtruppführers. »Ich werde den westlichen Strand samt Dünen ablaufen, Vev klappert die Häuser der Nachbarn ab und sucht dann am östlichen Strand weiter. Timo und Yasmin, ihr nehmt den Weg in Richtung Vitte und seht in den Sträuchern nach. Clarissa hat sich bestimmt verirrt und irgendwo Schutz gesucht, wir müssen sie bloß finden.«
    Der letzte Satz war die Parole, die niemand anzweifeln durfte, die niemand anzweifeln wollte.
    »Leonie, du bleibst hier. Einer von uns muss im Haus sein, für den Fall, dass Clarissa zurückkommt oder dass jemand anruft. Und bitte klingele bei den Nans an, das ist die Kurzwahltaste neun. Hast du das verstanden? Leonie, hast du mir zugehört?«
    Leonies Mund verhärtete sich. »Ja.«
    Sie zogen sich so wetterfest wie möglich an. Yasmin und Timo hatten keine Anoraks und Stiefel nach Hiddensee mitgebracht und wurden deswegen aus dem Fundus von Philipp und Vev versorgt. Die Jacken waren ihnen zu groß, die Schuhe passten mehr schlecht als recht, aber das musste reichen. Während der Ankleideprozedur sprachen sie nur das Nötigste miteinander, ein »Hier«, ein »Dort«, ein »Ja«, ein »Nein«. Alles Verzierende verkniffen sie sich, auch die Höflichkeit.
    Irgendwie bildeten sie eine seltsame Mannschaft: Timo hatte Leonie zurückgewiesen, Vev hatte Timo fallenlassen, Philipp hatte Timo einen Kinnhaken verpasst, Vev und Philipp lagen im Streit, Philipp hatte Yasmin angeschnauzt, Yasmin hatte Leonie bei der Selbstverstümmelung ertappt, worauf beide gerne verzichtet hätten … Kaum einer konnte den anderen noch leiden, und ihnen war längst bewusst, dass sie nach dem hoffentlich glücklichen Ausgang des Abenteuers auseinanderfallen würden wie das modrige Buch einer längst untergegangenen Epoche.
    Für den Moment aber spielte das keine Rolle.
    »Fertig?«, fragte Philipp.
    Sie nickten.
    Kaum dass er die Klinke gedrückt hatte, riss ihm die Wucht des Sturms die Tür aus der Hand. Sie prallte gegen die Wand, wobei das Schloss beschädigt wurde und die Luke im oberen Drittel der Tür einen Sprung bekam. Regen und Wind schlugen und drückten ihnen dermaßen in die Gesichter, dass ihnen fast die Luft wegblieb. In der Haltung eines gleitenden Skispringers arbeiteten sie sich Schritt für Schritt voran. Sofort verloren Timo und Yasmin Philipp und Vev aus den Augen.
    Yasmin hielt sich dicht neben Timo, während sie in kurzen Intervallen nach Clarissa riefen.
    Wie befohlen hielten sie sich an den Weg in Richtung Vitte. Sobald sie Neuendorf verlassen hatten, wandte Timo sich Yasmin zu. Ihr Gesicht schimmerte tropfnass und eiförmig aus der Kapuze hervor.
    »Ich suche ein Stück abseits des Weges«, schrie Timo.
    »Du kennst dich hier nicht aus«, antwortete Yasmin.
    »Die Insel ist gerade mal einen Kilometer breit, ich werde mich schon nicht verlaufen. Dass wir zu zweit dieselbe Strecke absuchen, ist Verschwendung.«
    Yasmin nickte, wenn nicht im Einverständnis, so vor Erschöpfung.
    Timo schlug sich in die Büsche zur Linken. Die dünnen Zweige vereinzelten Strauchwerks

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