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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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wie sie die Zigarette mit gleichmäßig ruhigem Tempo näher an die Brust führte. Natürlich hätte sie einfach nach unten blicken und Brust und Zigarette unmittelbar fixieren können, doch sie zog den Umweg über den Spiegel vor.
    Ein Zischen.
    Der Schmerz zerriss sie, und darin blitzten andere Schmerzen auf: das Dunkel des Geräteschuppens, in dem sie als Kind eingesperrt gewesen war, das Schweigen ihrer Mutter, die Angst vor dem Alleinsein und die Angst, nicht allein zu sein. Vergangenes Leid war – für die Dauer einer Sekunde, für die Dauer des Zischens – eingebettet in das gegenwärtige Leid.
    Gleich darauf folgte ein kurzes Glück, vergleichbar mit dem Glück einer gelungenen Flucht, vergleichbar auch mit dem Glück, auf einer Autobahn mit Tempo zweihundertzwanzig zu fahren.
    Die Stelle neben der Brustwarze auf der linken Brust rötete sich. Bald würde die Haut anschwellen und eine mit Gewebswasser gefüllte Blase ausbilden.
    Leonie schluckte eine Schmerztablette. Dann griff sie zum Handy und wählte die Kurzwahltaste Eins. Erneut entzündete sie die Zigarette und wiederholte den Vorgang auf der rechten Brust. Ihr Mund öffnete sich, ohne dass ein Schrei sich entlud. Ein paar Sekunden später hinterließ sie ihre Nachricht.
    »Steffen, bitte komm her und hol mich ab. Du musst mir helfen. Bitte, bitte, ich brauche dich. Hier geht alles kaputt. Oh mein Gott, es tut so weh. Alles, alles tut so weh. Bitte, bitte, bitte, Steffen …«
    Sie beendete das Gespräch, schluckte eine zweite Schmerztablette, wischte sich die Tränen vom Kinn, entzündete die Zigarette noch einmal und führte sie langsam auf das Brustbein. Zischen. Ihr Mund öffnete sich.
    Die Tür ging auf, Yasmin platzte herein – und sah alles: die Zigarette, die Wunden. Auch ihr Mund öffnete sich, ohne einen Laut hervorzubringen.
    Leonie knöpfte rasch die Bluse zu. »Was willst du denn schon wieder?«
    Yasmin versuchte ein Wort zu formen. »Ich … Ich suche … Hast du Clarissa gesehen? Sie ist verschwunden.«
    Als Timo ins Wohnzimmer kam, waren dort alle außer Vev versammelt. Philipps Haare und das frische Hemd waren nass, weil er die Veranda und die nähere Umgebung des Hauses nach seiner Tochter abgesucht hatte. Timo und Yasmin hatten in allen Schränken und unter allen Betten im Obergeschoss nachgesehen. Leonie verhielt sich passiv.
    Wütend rüttelte der Sturm an den Fenstern, heulte auf, schleuderte den Regen wie Nägel gegen das Glas. Im Hintergrund lief der Fernseher, der nun einen Bildausfall meldete.
    »Wer hat Clarissa zuletzt gesehen?«, fragte Philipp. Seine Stimme war angespannt und leicht erregt, aber nicht panisch.
    »Ich, heute Nachmittag«, antwortete Timo. »Ich habe sie getröstet.«
    »Getröstet? War sie traurig?«
    Timo vermied, Leonie anzusehen, doch er spürte ihren Blick auf seinem Nacken. »Ähm, ein bisschen.«
    »Wieso? Was war los?«
    »Ist doch jetzt nicht so wichtig, oder?«
    »Ich bin ihr Vater, und ich bestimme, was wichtig ist. Antworte! Was war los gewesen?«
    »Sie war enttäuscht, weil Leonie nicht mit ihr spielen wollte und dabei ein bisschen … na ja ungeduldig geworden ist. Später hat Clarissa vor dem Fernseher gesessen, das nehme ich jedenfalls an. Ich habe sie nicht gesehen, aber der Kinderkanal lief. Das war«, Timo warf Philipp einen ernsten Blick zu, »als ich mit Vev auf der Veranda war.«
    Philipp erwiderte den Blick. »Und danach?«
    »Ich war zuerst am Strand und bin dann direkt auf mein Zimmer gegangen. Ich habe die Kleine weder gesehen noch gehört.«
    »Als ich ins Haus gekommen bin«, warf Yasmin ein, »ist der Kinderkanal noch immer gelaufen, daran erinnere ich mich. Es war ungefähr vier Uhr, vielleicht Viertel nach.«
    »Da war ich noch am Hafen«, sagte Philipp. »Hast du mit ihr gesprochen?«
    »Nein, ich bin nicht ins Wohnzimmer gegangen, sondern gleich in mein Zimmer. Ich war ziemlich durchgepustet von meinem langen Spaziergang.«
    »Ich glaube wohl eher vollgedröhnt von Joints. Ich kann das Hasch bis hier riechen.«
    Yasmin wollte gerade etwas erwidern, als Vev ins Zimmer kam. »In der Waschküche und auf dem Speicher ist sie auch nicht«, sagte sie. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Anders als Philipp gab sie sich keine Mühe, es zu verbergen.
    »Clarissa konnte gar nicht in der Waschküche sein«, sagte Philipp. »Die Tür war von außen abgeschlossen. Es wäre unlogisch …«
    Vev fiel ihm ins Wort. »Deine Logik ist mir im Moment scheißegal. Ich suche meine

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