Das Nebelhaus
bogen sich, der Untergrund war weich. Die Schönheit der Heideblüte ging unter in der Gewalt von Nässe und Dunkelheit. Die Natur ächzte, Kiefern knarrten, Wipfel schlug an Wipfel. Aus dem Nichts kam gelegentlich der Schrei eines Vogels, in vermeintlich weiter Ferne brüllte das Meer. Aber über allem rauschten wie eine Decke aus Lärm Wind und Regen. Darum bemüht, kein Geräusch zu überhören – schließlich könnte eines von Clarissa stammen –, streifte Timo die Kapuze zurück.
Immer wieder rief er den Namen des Mädchens, das er vor wenigen Stunden noch mit der Nase angestupst hatte. Es waren ohnmächtige Schreie gegen einen Sturm, der jedes Wort zerriss, zerstörte.
Mehrmals fiel er hin. Er stolperte über Wurzeln, oder eine Böe erfasste ihn. Seine Jeans war längst ein nasser Lappen, und seit er die Kapuze abgestreift hatte, liefen ihm die kalten Tropfen in den Nacken und von dort den Rücken hinunter. Sein Atem ging schwer. Sich gegen das Gewicht des Sturms zu stemmen, einen Fuß vor den anderen zu setzen und aufzustehen, wenn er hingefallen war, bedeutete für ihn eine enorme körperliche Anstrengung. Immer wieder hielt er sich an Baumstämmen fest, hangelte sich an Gestrüpp entlang. Wäre der Wind nicht hauptsächlich aus derselben Richtung gekommen, hätte er die Orientierung verloren.
Er hatte keine Ahnung, wie weit er gekommen war. Es fühlte sich an wie ein Marathonlauf, und auch das Zeitgefühl ging ihm verloren. Sturmtief Emily raubte ihm alle physischen und psychischen Kräfte, alles. Es war, als sauge sie ihn aus.
Irgendwann brach er wehrlos zusammen. Am Boden waren Emilys Kräfte geringer, gegen die Erde vermochte sie wenig auszurichten.
Timo lehnte an einer jungen Birke und blickte nach oben in die Milliarden und Abermilliarden kleiner Quälgeister, die vom Himmel schossen. Zwischen Wolkenfetzen blinkte manchmal der Mond auf wie eine gigantische Leuchtreklame.
Ein paar Mal noch rief er nach Clarissa, aber er dachte in seiner großen Ermattung vor allem an Vev. Er war nahe dran zu beten und wünschte, er hätte es gekonnt.
Mit beiden Händen ergriff er ein paar Zweige, um sich daran hochzuziehen, als sein Blick auf etwas Längliches fiel, das er bisher, beeinträchtigt von Regen, Dunkelheit und Ermattung, für den Teil eines Baumstamms gehalten hatte.
Jetzt erkannte er, dass vor ihm, zum Greifen nahe und mit dem Gesicht nach unten, ein menschlicher Körper lag.
Leonie saß, die Arme um den Oberkörper geschlungen, am Esstisch. Der Sturm brandete mit voller Wucht gegen die Fenster, und auch in Leonies Innern herrschte Sturm. Nur dazwischen war große Ruhe. Ihrem Körper war äußerlich nichts anzumerken von den Dingen, die geschahen, so als wäre er etwas Eigenes, von allem Entfremdetes. Sie tat nichts weiter, als vor sich hin zu starren. Auf ihren Brüsten hatten sich Brandblasen gebildet, die höllisch schmerzten, wogegen sie nichts tun konnte, außer in immer kürzerem Abstand Pillen zu nehmen. In den Phasen dazwischen wusste sie nichts mit sich anzufangen. Sie war ganz auf sich selbst konzentriert. Eine dunkle Masse näherte sich ihr, schwarz, drohend, tödlich, ähnlich der Wetterwand vom Nachmittag – sie zog in ihrem Innern auf.
Wieso hatte Philipp ausgerechnet ihr befohlen, im Haus zu bleiben? Sie war jünger als Yasmin und kräftiger als Timo. Sie war mindestens ebenso gut geeignet, Clarissa zu suchen und zu finden. Trotzdem traute Philipp es ihr nicht zu. Wer hatte sich denn das ganze Wochenende mit der Göre befasst!
Vev war eifersüchtig auf sie, so war das. Philipps Frau wollte nicht, dass sie, Leonie, Clarissa rettete. Die beiden wollten ihr nicht dankbar sein müssen. Die beiden hatten gegen sie gesprochen, hatten hinter ihrem Rücken ihren Rauswurf geplant. Sie hielten sie für bescheuert und glaubten, sie merke nicht, was sie von ihr dachten. Sie spielten ihr etwas vor, eine Posse.
Leonie schluckte noch eine Pille.
Ein auffälliges Geräusch, ein lautes Knacken ließ sie den Blick heben.
»Clarissa?«, rief sie.
Keine Antwort.
In den Nachrichten hatten sie gesagt, gegen neunzehn Uhr erreiche der Sturm die Spitze, es käme zu Böen mit zweihundert Stundenkilometern.
Es war achtzehn Uhr dreißig.
Erneutes Knacken.
»Philipp? Yasmin?«
Keine Antwort.
Ein wenig widerwillig stand sie auf.
»Timo? Vev?«
Plötzlich ein lautes Geräusch, ein Bersten und Klirren. Dann ein schauerliches Rauschen.
Leonie blieb zwei, drei Sekunden lang erschrocken stehen, dann
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