Das Nebelhaus
spürte sie die Kälte, den Wind, und sie begriff, was geschehen war. Sofort eilte sie in den Eingangsbereich, und tatsächlich: Die angeschlagene Luke in der Haustür war zerbrochen. Ungehindert strömte der Sturm durch das gesprengte Ventil, stieß den Garderobenständer um, riss einen Spiegel von der Wand … Die Scherben, munter funkelnd im Lampenlicht, bedeckten den Boden.
Unkoordiniert gestikulierte Leonie in der Luft herum, pendelte zwischen Hilflosigkeit und Entschlossenheit. Sie wollte eine Dielentür schließen, die es nicht gab, wollte ohne Schuhe über die Splitter laufen, um den Garderobenständer aufzurichten, und kehrte wieder um.
Eine Decke, sie brauchte eine Decke. Hektisch rannte sie ins Wohnzimmer. Emily hatte inzwischen das Haus unter ihre Kontrolle gebracht. In allen Räumen des Erdgeschosses tanzten Luftwirbel, deren zügelloser Rock’n’Roll Fotorahmen umstürzen, Tischdecken flattern und Blumenvasen kippen ließ. Leonie schloss die wenigen Türen, die es gab, um es dem Wind schwerer zu machen. Sie fand eine Wolldecke auf dem Sofa und breitete sie auf dem Boden des Eingangsbereichs aus. Auf Zehenspitzen ging sie zu ihren Schuhen. Sie waren nass, der Regen peitschte fast waagerecht durch die Luke, wirbelte außerdem Laub und Blüten und sogar kleine Zweige auf.
Leonie zog die Schuhe an. Um dem wilden Treiben ein Ende zu setzen, war es nötig, die Luke irgendwie zu schließen, entweder indem sie das Loch zustopfte oder es verhängte. Vielleicht mit der Decke? Zum Zustopfen würde sie nicht reichen, aber wenn sie den Stoff vor die Luke hängen könnte, drinnen oder draußen … Dazu müsste sie allerdings Nägel in die Tür schlagen. Unabhängig davon, dass sie unsicher war, ob sie in dieser Situation überhaupt in der Lage sein würde, einen Nagelkopf mit dem Hammer zu treffen, waren Nägel in der Haustür wohl eher die letzte Wahl.
Besser war es, die Luke zu verstopfen. Wenn sie eine zweite Decke hätte … Sie lief ins Wohnzimmer zurück, das mittlerweile aussah, als ob ein Raub stattgefunden habe. Ihr Blick fiel unmittelbar auf den rot-weißen Vorhang am Fenster.
Sie wollte ihn soeben mit einem kräftigen Ruck aus der Befestigung reißen, als sie – durch irgendeine Bewegung irritiert, die sie aus den Augenwinkeln wahrnahm – zur Seite blickte, dorthin wo jenseits des Fensters nur Schwärze war, nur Schwärze sein sollte .
Inmitten dieser Schwärze sah sie ein Gesicht.
Leonie schrie leise auf und machte einen Schritt zurück, dabei stolperte sie und fiel hin.
Als sie noch einmal zum Fenster blickte, war das Gesicht verschwunden, aber sie war sich sicher , es gesehen zu haben. Es war nicht Philipps gewesen, auch nicht Yasmins, Vevs oder Timos, und Clarissas schon gar nicht. Es war ein furchterregendes Gesicht gewesen, irgendwie maskenhaft, geschlechtslos. Sie hatte es nur kurz wahrgenommen, wie einen Blitz, aber sie spürte , dass etwas Böses davon ausging.
Fenster. Überall Fenster, wohin sie auch sah. Wer in das Haus eindringen wollte, hätte keine Mühe.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie aus der Gästetoilette ein lautes Klopfen hörte. Sie näherte sich der geschlossenen Tür, vernahm ein Geräusch, als würde ein Eiszapfen in warmes Wasser getaucht, erst ein Knirschen und dann – ein Splittern. Nur einen Augenblick später flogen die beschädigte Haustür und die Toilettentür krachend auf.
Leonie unterdrückte einen Schrei. Mitten in ihrem Herzen explodierte die Angst wie eine Bombe. Die Druckwelle erfasste ihre Lunge, ihre Arme, ihre Beine. Sie rannte in die Küche und zog ein Fleischmesser aus dem Block. Doch die Küche flößte ihr zusätzlich Furcht ein. Von all den Gegenständen, die dort an Haken hingen – Fleischklopfer, Bratengabeln, Gusspfannen, japanische Messer, Messerschärfer –, ging eine Drohung gegen sie aus. Hastig sah sie sich um. Sie wollte weg, nur weg. Das Gesetz der Angst verbot ihr allerdings, einen Weg einzuschlagen, der sie auch nur einen Meter zurück oder um eine Ecke geführt hätte.
Hin- und hergerissen zwischen der Tür zur Veranda – einer Tür ins Freie – und dem Wintergarten, wählte sie den Wintergarten.
Der vollverglaste Raum war wie das Auge eines Orkans. Im Innern herrschte völlige Windstille. Korbmöbel, Lorbeerbäume und Orchideen, Monets Seerosenteich, ein Stillleben und ein plätschernder Brunnen waren Attribute paradiesischen Friedens. Das Chaos war jedoch zum Greifen nahe. Draußen knickten die Äste,
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