Das Nebelhaus
du einen schönen Abend vor dir.«
»Mir geht’s schon besser. Du hast mich aufgeheitert.«
»Dafür sind Söhne ja sonst nicht bekannt.«
Wir sprachen noch ein wenig über sein Studium, ehe wir uns verabschiedeten. Nach dem Telefonat holte ich das in die Tonne geworfene Material wieder hervor, griff zum Hörer und wählte.
28
September 2010
Frau Nan lag vor ihm auf der tropfenden Heide, reglos und bleich. Ihre grauen, melierten Haare klebten im Gesicht, auf den Ohren … Im Nacken waren sie rot gefärbt von Blut. In der Wölbung von Timos Hand, mit der er ihren Hinterkopf hielt, bildete sich eine rote Pfütze, und sooft er das Blut abschüttelte, es rann unaufhörlich nach. Vergeblich versuchte er, Frau Nan zu Bewusstsein zu bringen, und genauso vergeblich bemühte er sich, sie aufzurichten. Sie war nicht schwer, aber er ebenso wenig. Dazu kamen der Sturm, die Dunkelheit, der matschige Untergrund und das Dickicht. Nach zwei Anläufen war er völlig erledigt.
»Timo?«
Yasmins Stimme war wie eine Rettungsboje, an die er sich klammern konnte. Endlich war er nicht mehr allein mit einer Verletzten, einer Sterbenden womöglich.
»Hier bin ich, hier drüben. Komm schnell.«
»Hast du Clarissa gefunden?«, rief Yasmin, während sie sich durch die Sträucher kämpfte.
»Nein, das ist Frau Nan. Du musst mir helfen, sie zu tragen.«
»Was ist passiert?«
»Keine Ahnung. Ich habe sie so gefunden.«
»Lebt sie noch?«
»Ich … ich nehme es doch an.« Er war seltsamerweise gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie tot sein könnte. Nun tastete er ihr Handgelenk ab.
»Meine Hände sind so kalt … Doch, ja, ich fühle ihren Puls. Beeilen wir uns, Frau Nan zum Haus zu bringen.«
Yasmin ergriff die Beine, Timo fasste sie an den Schultern. Immer wieder mussten sie Frau Nan absetzen, immer wieder fielen sie auf die Knie und keuchten. Das Gesicht der Greisin, auf das Timo fast zwangsläufig starrte, blieb unbewegt.
Komm schon, wach auf, halte durch, redete Timo ihr stumm zu. Du bist noch längst nicht am Ende, du hast noch ein paar schöne Jährchen vor dir, an einer Bucht, die begrenzt ist vom Schilf und den Felsen, in deinem Haus aus Holz und Palmblättern, umgeben vom Wald, den Reisfeldern, von den Schreien der Affen, vom Duft des warmen Monsuns … Hörst du den Fluss? Mach die Augen auf, in denen tief verborgen die Sehnsucht versteckt ist, noch einmal den Mekong zu sehen … Du hast genug gebüßt, ein halbes Leben lang. Deine Aufgabe besteht darin, über deine Schuld zu reden, nicht an ihr zugrunde zu gehen.
Er spähte andauernd über die Schulter, in der Erwartung und der Angst, Herrn Nan zu sehen.
Die Augenblicke zwischen den Rufen waren das Schlimmste für Philipp, gefüllt mit Vokabeln der Machtlosigkeit und des Grauens. Solange er rief, hatte er das Gefühl, etwas zu tun, das ihm unweigerlich seine Tochter zurückbrächte, doch sobald der Ruf verklungen, vom Orkan erstickt worden war, erhielt seine Hoffnung einen Rückschlag. Darum rief er, sooft er konnte.
So nah am Wasser traf ihn der Sturm ungefiltert mit voller Wucht. Gelegentlich erfasste ihn eine Welle, riss ihm fast die Beine weg und gab ihm zu verstehen, was passieren würde, wenn sie Clarissa in ihre Gewalt bekäme. Hatte er sein Mädchen jemals vor den Wellen gewarnt? Er erinnerte sich an andere Ermahnungen: Nimm dich in Acht vor Fremden, nimm dich in Acht vor großen Hunden … Sie nahm sich nicht in Acht. Clarissa war allem und jedem gegenüber arglos und aufgeschlossen, auch Dingen, die viel mächtiger waren als sie, so als wolle sie dem Leben sagen: Ich vertraue dir.
Philipp stolperte. Seine Hand krallte sich so fest in den nassen Sand, dass er ihm durch die Finger schlüpfte. Den Rest warf er fluchend ins finstere Nichts. Der Orkan war zu stark geworden, um weiterzusuchen. Vielleicht hatten Vev, Yasmin oder Timo mehr Glück gehabt, vielleicht hatte Clarissa bei einem der Nachbarn Schutz gefunden. So musste es sein. Auf allen vieren kroch Philipp die Düne hoch, rollte sich auf deren andere Seite und kämpfte sich zum Haus zurück.
Heimgekehrt, fand er das blanke Chaos vor. Kaum etwas war noch dort, wo es hingehörte. Alles, was nicht schwer genug war, war verschoben, zerbrochen, verdreht, umgeworfen. Papiere, Zeitungen, Servietten und Clarissas Krakeleien tanzten über die Böden, schoben sich die Wände hoch oder schaukelten durch die Luft.
Er suchte nach Leonie, fand sie aber weder im Erdgeschoss noch in den Zimmern des ersten
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