Das Nebelhaus
Wäre dies ein billiger Krimi von Edgar Wallace, müsste jetzt auch noch der Strom ausfallen, und wir alle würden mit tropfenden Kerzen durchs Haus laufen.«
»Ich habe deinen Humor noch nie gemocht«, sagte Philipp. »In dieser Situation Scherze zu machen, das ist unanständig.«
»Es ist meine Art, mit der Niedergeschlagenheit umzugehen.«
»Ach so, na dann kann ich es natürlich verstehen, dass du immerzu sprühst vor Witz. Jemand wie du muss ziemlich niedergeschlagen sein, so ein kleiner Scheißer, der seit fünfzehn Jahren, seit er auf den letzten Schornstein geklettert ist, nichts auf die Reihe bringt, der nur zwei erfolglose Bücher vorzuweisen hat, der es nötig hat, sich an einer elf Jahre älteren Frau zu vergreifen, ein Hänfling von einem Gigolo. Außer schöne Reden zu schwingen hast du doch nichts drauf. Immer der liebe, halbintellektuelle Timo, lachend, scherzend, die Bonmots wie Kamellen unter die Leute streuend. Zieht man das ab, ergeht es dir wie einem Clown zum Aufblasen, bei dem das Ventil aufgesprungen ist.«
»Und du«, erwiderte Timo, »bist der Prototyp des Spießers im einundzwanzigsten Jahrhundert: der Puritaner im Glashaus, der Müsli fressende Korrektor, der Globuli-gläubige Familienvater, der jeden zweiten Tag Liebe macht, jeden dritten Tag seine Eltern anruft, niemals mehr als zwei Gläser Wein trinkt, sogar die Zahnpasta im Bioladen kauft und auch nicht vergisst, einen Euro für den vom Aussterben bedrohten nordwestvenezolanischen Grünohrpfeifvogel zu spenden, währenddessen er den Superreichen in den Arsch kriecht und ihnen neue Versailles aus Glas und Tropenholz baut.«
»Meine Rede«, sagte Yasmin, die gerade die Treppe herunterkam. Sie hatte Verbandszeug gefunden, mit dem sie Frau Nans Kopf ungeübt umwickelte. »Wenn ich dran denke, dass du, Philipp, früher mal davon geträumt hast, helle und freundliche Sozialwohnungen zu bauen …«
»Ich glaube, ich spinne. Meine Tochter ist verschwunden, und ich muss mir einen solchen Mist anhören.«
» Du hast angefangen«, verteidigte sich Timo.
Leonies Erscheinen beendete den Streit abrupt. Sie war totenbleich, blasser als Frau Nan, und hielt ein Messer in Händen, das zwar passiv in der Höhe ihres Oberschenkels am herabhängenden Arm ruhte, aber dennoch sehr präsent war.
»Sie wurde erschlagen«, sagte Leonie. »Und zwar von der Gestalt, die ich am Fenster gesehen habe. Von einem Mann. Ihrem Ehemann.«
Philipp warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Was erzählst du da für einen Quatsch?«, rief er, wobei er das letzte Wort derart überbetonte, dass ihm Speichel aus dem Mund sprühte.
»Das ist kein Quatsch.«
»Vorhin hast du gesagt, dass es nicht Mann und nicht Frau war, was du gesehen hast.«
»Ich bin mir jetzt ganz sicher, dass es ein Mann war. Einer wie sie. Deswegen habe ich ihn in der Dunkelheit nicht gleich erkannt.«
»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte er. »Keiner mit Verstand glaubt den Phantasien deines verdrehten, durchgeknallten Hirns. Du siehst abwechselnd Gespenster, Einbrecher und Mörder am Werk. Vev hatte recht, dir eine zu scheuern. Nicht einmal jetzt machst du dich nützlich, kannst nicht auf das Haus aufpassen, verkriechst dich unter Tischen, stehst nur herum und phantasierst … Ungeheuerlich, dass man dir jemals erlaubt hat, eine Waffe zu tragen. Gib das Messer her.« Er riss es ihr aus der Hand. »Ich habe es satt, mich noch länger mit dir zu beschäftigen. Geh mir aus den Augen. Hau ab, sage ich.«
Leonie war während Philipps Beschimpfung zunehmend erstarrt. Nun rannte sie die Treppe hinauf und warf die Tür hinter sich zu.
Sie schwiegen. Es gab so viele Gründe dafür – Clarissas ungewisses Schicksal, der Streit, Philipps Wutausbruch, Leonies Flucht, die noch fehlende Vev, die bewusstlose Frau Nan zwischen ihnen –, dass sie ihnen nachgaben.
Kurz darauf fiel tatsächlich der Strom aus.
Timo und Yasmin zündeten ein paar Kerzen an. Einige Minuten lang saßen sie fast andächtig im flackernden Schein beisammen. Ab und zu fiel ihr Blick auf Frau Nan.
Ihr Gesichtsausdruck war frei von Schmerz, gleichmütig. Timo dachte an das, was Leonie gesagt hatte. Stammte die tödliche Verletzung auf Frau Nans Hinterkopf von einem abgebrochenen Ast, der sie unglücklich getroffen hatte, oder hatte Herr Nan zugeschlagen? Das Motiv dafür wäre Timo bekannt. Leonie war zwar nicht gerade die zuverlässigste Zeugin, aber konnte es nicht sein, dass sie wirklich ein Gesicht am Fenster wahrgenommen
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