Das Nebelhaus
hatte, das Gesicht von Herrn Nan? Oder … das von Yim?
»Wo ist eigentlich Yim?«, fragte Timo.
»Ich habe ihn zuletzt am Hafen gesehen, vorhin, am späten Nachmittag«, sagte Philipp müde. Der Tonfall zwischen ihnen normalisierte sich. »Auf dem Handy habe ich ihn nicht erreicht, als die Netze noch funktionierten. Und inzwischen …« Er seufzte. »Wir können nur warten und hoffen.«
Genau das taten sie.
Als Vev hereinstürmte und rief: »Da bin ich. Ich habe Clarissa«, rannten Timo, Philipp und Yasmin ihr entgegen. Das Haar klebte ihr in nassen Strähnen auf den Wangen, Tropfen perlten zu Boden, sie war schmutzig und erschöpft, aber sie lachte.
»Sie hatte sich unter einer Eibe versteckt. Dort habe ich sie neulich schon einmal erwischt. Nicht zu glauben – ihr Lieblingsplatz ist ein Ort, wo andere ihr Geschäft verrichten. Traumberuf Toilettenfrau.«
Ich liebe sie, dachte Timo, mein Gott, wie sehr ich sie liebe.
Während Philipp seine verstörte, kleine Tochter in die Arme schloss, machte Timo mit Vev dasselbe, und obwohl sie kalt und durchnässt war, hatte er sich in ihrer Gegenwart nie wohler gefühlt.
Keiner machte Clarissa Vorwürfe, niemand stellte ihr Fragen. Alle sahen ihren geröteten Wangen die Tränen an, die darübergelaufen waren.
»Jetzt ein warmes Bad und dann ab ins Bett«, sagte Philipp und umarmte sie ein weiteres Mal. »Ich mache das schon, Vev. Ruh dich aus.«
Philipp brachte Clarissa ins Obergeschoss. Vev, die von Timo kurz informiert wurde, was es mit der scheinbar schlafenden Frau Nan auf dem Sofa auf sich hatte, ging in die Küche. Sie brühte sich einen Kräutertee auf, schenkte sich einen Whisky ein und setzte sich mit beiden Getränken neben die Bewusstlose.
»Ich bin sicher, dass sie bald aufwachen wird«, sagte sie zu Timo und Yasmin. »Geht ihr nur in eure Zimmer. Löst mich jemand in einer Stunde ab?«
Yasmin akzeptierte das Angebot umgehend. Timo schloss notdürftig die Haustür, um dem Wind, der immer noch durchs Haus fegte, Einhalt zu gebieten. Als ihm das gelungen war, ließ er Vev in Ruhe – schweren Herzens, aber er wusste, dass sie Zeit für sich brauchte.
Eine halbe Stunde lang schien der Frieden wiederhergestellt.
29
Ich traf mich noch am selben Abend, an dem mich Jonas angerufen und aufgeheitert hatte, mit einer Freundin. Eigentlich war sie eher eine gute Bekannte, mit der ich drei-, viermal im Jahr etwas trinken ging. Sie war schon an die sechzig Jahre alt, und wir hatten auch sonst wenig gemeinsam. Ich hatte Hanna über den Job kennengelernt. Sie war Gerichtspsychologin und erstellte Gutachten. Bei unseren spärlichen Treffen sprachen wir meistens über die Arbeit – Mörder, Opfer, Prozesse –, privat wusste ich von ihr nur, dass sie im Laufe der letzten vier Jahre jedes Jahr vier Kilo zugenommen hatte. Sie war eine eindrucksvolle Erscheinung, hochgewachsen, grauhaarig und mit leicht maskulinen Zügen.
Ich glaube, sie hatte keine große Lust, sich spontan mit mir zu treffen, aber wir hatten uns eine ganze Weile nicht gesehen, was meine Schuld war, und ich machte es ein bisschen dringend.
Jedenfalls gab sie sich nach kurzem Zögern einen Ruck, und ich lud sie in die Bar am Lützowplatz ein.
Wir saßen in hohen schwarzen Ledersesseln, umrahmt von Lichtbögen, und diskutierten die menschliche Psyche, die fröhlich-bunt sein konnte wie Hannas Mai Tai oder dunkel und rätselhaft wie mein Negroni.
»Ich hatte am Telefon den Eindruck, dass dich etwas sehr beschäftigt, worüber du unbedingt reden musst«, sagte Hanna und kippte sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund.
»Greife in den Sack und ziehe ein Los«, scherzte ich. »Ich müsste über hundert Dinge unbedingt reden.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel darüber, dass ich mich Tag für Tag abrackere, aber gerade so über die Runden komme. Zum Beispiel darüber, dass es auf meinem Schreibtisch von Verbrechern nur so wimmelt und dass der Mann, in den ich mich verliebt habe, sich als Hüter eines dunklen Familiengeheimnisses entpuppt hat.«
»Klingt nach einem Schauerroman.«
»Ist aber mein Leben.«
»Das eine schließt das andere nicht aus. Welches dieser Probleme hat uns denn nun vor einer riesigen Schale mit Nüssen zusammengebracht und lässt mich morgen zweihundert Gramm mehr auf die Waage bringen?«
»Keins davon.«
»Schade. Ich hatte auf das Familiengeheimnis gehofft.«
»Da muss ich dich leider enttäuschen. Ich kann nur mit einer Mörderin dienen.«
»Ah, das Übliche also. Bin
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