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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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Stocks. Schließlich bemerkte er die offene Tür zum Wintergarten.
    »Leonie, was machst du denn da?« Philipp blickte befremdet auf das Nervenbündel, das unter dem Korbtisch kauerte und ein Messer in Händen hielt. »Das ganze Haus steht Kopf, und du …«
    »Philipp, du bist es! Ich habe geglaubt … Da war ein grauenhaftes Gesicht am Fenster … Irgendwie nicht Frau und nicht Mann. Fremd, so fremd. Und dann ist jemand in die Gästetoilette eingebrochen.«
    »Was redest du denn da?«
    »Überzeuge dich selbst. Jemand ist eingebrochen.«
    »Der Sturm ist eingebrochen.«
    »Nein, nein, da war jemand. Geh ins Bad, dann siehst du es. Hier, nimm das Messer mit.«
    »Ich brauche kein Messer«, sagte er und verließ den Wintergarten. Das war doch nicht zu fassen. Sein Mädchen war verschwunden, sein Haus war verwüstet, und Leonie hatte nichts Besseres zu tun, als völlig durchzudrehen.
    Er sah im Bad nach. Tatsächlich war die Scheibe im oberen Drittel zerbrochen. Offensichtlich hatte das Fenster auf Kipp gestanden, und die Zugluft hatte es zu- und wieder aufgerissen, so oft, bis es zersprungen war. Es war noch immer gekippt. Niemand war durch dieses Fenster eingedrungen.
    Er hatte keine Lust, sich noch länger mit der Hysterikerin im Wintergarten abzugeben, und ging schnurstracks zum Telefon. Die Polizei musste die Suche nach Clarissa übernehmen, Rettungskräfte mussten ausrücken. Im Grunde wusste er, welche Antwort man ihm geben würde. Bei Orkan kam kein Schiff vom Festland nach Hiddensee, auch kein Hubschrauber. Aber er wollte es gesagt bekommen, wollte jemanden anschreien …
    Nicht einmal dieser billige Trost war ihm vergönnt. Die Leitung war zusammengebrochen. Die Geräuschlosigkeit im Hörer stand im Gegensatz zur rasenden Welt. Das Handy wiederum kündigte schon auf dem leuchtenden Display an, dass keine Verbindung möglich war. Nirgendwohin.
    Und dann, als das Display wieder erlosch, nachdem es ihm die bittere Wahrheit verkündet hatte, stand alles still. Es war, als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen, als hätte die Zeit aufgehört voranzuschreiten. Philipps Gedanken erstarrten. Er war unfähig, an irgendetwas oder irgendjemanden zu denken. Er sah nur das erloschene Display, sah das Gerät in seiner Hand, die Tastatur, all die Nutzlosigkeit.
    Mit einem Mal – so als würde er erwachen – begriff er, dass die Möglichkeit bestand, Clarissa nie mehr wiederzusehen, und selbst wenn er sie noch einmal sähe, dann nicht lebend. Da draußen hatte er es nicht wahrhaben wollen. Auch als er die Notrufnummer gewählt hatte, hatte er es nicht wahrhaben wollen. Erst jetzt, beim Anblick des stummen, erloschenen Telefons, war es möglich.
    Inmitten seiner Erstarrung schwand ihm der Boden unter den Füßen. Alles, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte, brach in sich zusammen. Das Haus war verwüstet, die Frau ehebrecherisch, die Tochter tot. Und er konnte den Gedanken nicht verhindern, dass an allem Leonie, Timo und Yasmin schuld sein könnten.
    Als Timo und Yasmin mit Frau Nans erschlafftem Körper ins Nebelhaus kamen, hatten sie keine Augen für das Chaos. Die Aussicht, sich von der schweren Last zu befreien, beherrschte ihre Gedanken.
    »Was ist passiert?«, fragte Philipp.
    Sie legten Frau Nan auf das Sofa und brachen daneben zusammen. Umgehend bildeten sich kleine Pfützen um sie herum.
    Philipp beugte sich über die reglose Gestalt. Mit der Routine eines Roboterarms legte er nacheinander beide Hände auf alle relevanten Punkte des menschlichen Körpers, die Lebendigkeit beweisen: auf die Handgelenke, auf die Halsschlagader, die Schläfen, das Herz. Er öffnete ihr das linke Auge.
    »Sie lebt, sie ist nur bewusstlos, ihr Puls ist fast normal«, sagte er.
    An seinem nüchternen Tonfall erkannte Timo, dass Clarissa noch immer vermisst und Philipp daher kaum imstande war, einer anderen Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. All seine Zuwendung war absorbiert von der Sorge um seine Tochter.
    »Ich habe Frau Nan ein paar Meter von der Straße entfernt gefunden«, sagte er mit dem ersten ihm zur Verfügung stehenden Atem, den er nicht zum Überleben brauchte. »Sie hat eine Wunde am Hinterkopf. Hast du Verbandszeug da?«
    »Kann sein. Oben im Bad hängt ein Erste-Hilfe-Kasten.«
    Yasmin lief sofort los, während Timo versuchte, den Notruf anzuwählen.
    »Die Leitung ist tot«, sagte Philipp.
    Timo überzeugte sich davon, dass Philipp recht hatte. »Wir sind tatsächlich von der Außenwelt abgeschnitten.

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