Das Nebelhaus
knipste die Schreibtischlampe an, und im nächsten Moment wurde ich von lilafarbenen Augen angestarrt, zwei ovalen Haftnotizen, die mich aus der Mappe mit den Hiddensee-Unterlagen anstrahlten. Auf der einen Notiz stand Yims Telefonnummer, auf der anderen die von Margarete Korn, Leonie Korns Mutter. Es war ein düsterer Montagvormittag, am Berliner Himmel braute sich ein schweres Gewitter zusammen, das die dünnen Fensterscheiben meiner Wohnung erzittern lassen würde. Mein Schlaf- und Arbeitszimmer lag nach Norden im zweiten Hinterhof eines Kreuzberger Neubaus, und an jenen Tagen, an denen sogar der Sommer die Parterrewohnung nicht zu erhellen vermochte, wünschte ich mich an einen lichten Ort, zum Beispiel auf einen Berggipfel oder eine Wiese.
Diesmal stellte ich mir Hiddensee vor: eine Insel aus Katenhäuschen, Bauerngärtchen, Heidegras und Sandkörnern, umgeben von Trillionen tanzenden Wassermolekülen, die unentwegt nach der Farbe des Himmels griffen und sie zurückwarfen. Dort schnitt just in diesem Moment eine betagte Frau Lupinen, um sie in einer Vase auf den Küchentisch zu stellen. Ihr Mann sah ihr dabei zu, er hatte die Zeitung beiseitegelegt und hoffte, dass seine Frau seinen Blick bemerkte. Stattdessen wurde sie von einer jungen Familie abgelenkt, die mit fünf unterschiedlich großen Fahrrädern an dem Garten vorbeifuhr, sichtlich zufrieden mit der Güte des Lebens.
Ich schüttelte die kitschige Vision ab und griff nach einer der Haftnotizen. Drei Tage lang hatte ich nichts für den Artikel über den Amoklauf getan, hatte weder geschrieben noch recherchiert, und auch der Stapel an Zusendungen der Fernakademie war eher gewachsen als geschrumpft. Mein Wochenende hatte ich mit Kleinkram verbracht, der keinen Aufschub mehr geduldet hatte. Einer Freundin, die am Samstag mit mir hatte shoppen gehen wollte, hatte ich abgesagt. Zwar wäre es mir möglich gewesen, zwei, drei Stunden frei zu nehmen, aber ich hatte keine Lust auf Shopping. Eigentlich verrückt: Ich spürte genau, dass mein Schreibtisch wie ein Stachel war, der beständig sein Gift in mich hineinpumpte, und dennoch trieb es mich immer wieder zu ihm hin.
Für den Abend stand das zweite Treffen mit Yim an, und ich war drauf und dran, es abzusagen. Ich würde mich sowieso nicht trauen, ihn ein zweites Mal auf seine Mutter und seine eigene Rolle bei der Tragödie anzusprechen. Was die private Komponente anging, fand ich Yim zwar sympathisch, aber er wäre dann ein neuer Mensch in meinem Leben, und neue Menschen brachten Verpflichtungen mit sich. Besonders am Anfang musste man eine Bekanntschaft hegen und pflegen wie ein Pflänzchen, damit sie sich verfestigen konnte, und erst viel später durfte man ihr etwas zumuten, kam sie mit wenig aus, überstand Durststrecken. Für solch eine weitere Verpflichtung fühlte ich mich nicht bereit.
Yim war telefonisch nicht erreichbar. Zuerst wollte ich ihm eine Nachricht hinterlassen, aber im letzten Moment entschied ich, dass er wenigstens eine persönliche Absage verdient hatte.
Nun ergriff ich die zweite Haftnotiz. »Margarete Korn: 0 61 74-52 55 35«, stand darauf. Seit Tagen wollte ich Leonies Mutter anrufen und interviewen.
Mit dem Kontakt zu den Täterangehörigen tat ich mich immer schon schwer. Sowohl als Mitglied im Weißen Ring, der Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer und deren Angehörige, wie auch als Betroffene und als Berichterstatterin wusste ich nur allzu gut, dass das Mitleid zwar den Opfern, die Aufmerksamkeit aber größtenteils den Tätern zuteilwurde, was mir missfiel.
Nicht, dass ich den Täterangehörigen generell eine moralische Mitschuld an den Verbrechen anlasten würde. Manchmal sind sie moralisch mitschuldig, manchmal nicht, das ist von Fall zu Fall verschieden. Aber im Gegensatz zu den Personen, die den Opfern nahestehen, sind sie unberechenbar. Opferangehörige trauern in erster Linie. Sie klagen ebenfalls an, aber oft fehlt ihnen die Kraft zur Nachhaltigkeit. Die Nebenklage ist eher ein verzweifeltes Aufbäumen, denn eine machtvolle Aktion, wenngleich ein Teil der Bewältigung. Die Gerichtsprozesse erleben Opferangehörige meist im Zustand der Ohnmacht, manche gleichen Treibgut. Auch Täterangehörige trauern – das wird in der Berichterstattung gerne vergessen –, doch bei ihnen kommt noch die Scham dazu, der mehr oder weniger zelebrierte Selbstvorwurf, bisweilen der junge Hass auf das eigene Fleisch und Blut, gepaart mit der alten Liebe von etlichen Jahren und
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