Das Nebelhaus
gelegentlich auch das Gegenteil, nämlich die Verleugnung. Ein für jede Psyche toxisches Gemisch.
Das macht sie nicht selten reizbar, und ehe man es sich versieht, drehen sie den Spieß um, dann ist die Gesellschaft schuld, also wir alle, die Hersteller von Videospielen, die Erotikindustrie, der Werteverfall, die Patchworkfamilie, die Arbeitslosigkeit, die Bildungspolitik, die Behörden, die Verfassungsorgane, und natürlich auch ich, Doro Kagel von den Medien.
Ich hatte keine Lust, mir diesen Mist anzuhören, trotzdem tat ich es. Mist gehörte nun mal zu meinem Job dazu.
Im Fall Hiddensee hielt ich mich jedoch zurück. Wenn ich diese Nummer wählte und Frau Korn interviewte, nahm ich den Auftrag für den Hiddensee-Artikel, der mir widerstrebte, endgültig an. Ausflüchte waren dann nur noch möglich, wenn ich ein Zerwürfnis mit dem Redakteur der mecklenburgischen Regionalzeitung riskieren wollte. Meinem Ruf als zuverlässige Reporterin wäre das abträglich gewesen.
Ich hätte sofort zu einem anderen Artikel übergehen können. Ich hatte die Wahl zwischen der Frau aus Niedersachsen, die über Jahre hinweg ihre neugeborenen Säuglinge in Pflanzenkübeln vergraben hatte, oder dem Mord an einer libanesisch-stämmigen Studentin, die sich weigerte, den ihr von der Familie bestimmten Mann zu heiraten.
Mein Pflichtbewusstsein gab letzten Endes den Ausschlag. Irgendwie würde ich diesen vermaledeiten Hiddensee-Fall schon kleinkriegen.
0 61 74-52 55 35.
»Korn.«
»Guten Tag, Frau Korn. Mein Name ist Kagel, Doro Kagel. Entschuldigen Sie, dass ich Sie belästige.« Ich erklärte, wer ich war und was ich vorhatte.
»Sie wollen also ein Interview?« Margarete Korns Stimme war schwer einzuordnen. Ein wenig klang sie voller Vorbehalte, als wolle ihr jemand am Telefon eine Rheumadecke verkaufen. Andererseits schien sie mir durchaus an einem Gespräch interessiert zu sein.
»In den ersten vier Wochen nach dem, was auf Hiddensee passiert ist, haben mir die Reporter fast die Tür eingerannt, aber seither wollte keiner mehr etwas von mir wissen«, sagte sie verbittert.
»Ich kann nicht für meine Kollegen sprechen, sondern nur für mich. Damals stand die Tat im Vordergrund, heute sind es die Menschen. Ich gebe Ihnen die einmalige Gelegenheit, Dinge von Leonie zu erzählen, die Sie immer schon einmal loswerden wollten.«
Als hätte ich sie auf eine Idee gebracht, vollzog sie einen Kurswechsel um hundertachtzig Grad. »Gut, dann kommen Sie vorbei. Am besten jetzt gleich.«
»Frau Korn, ich rufe nicht aus der Telefonzelle um die Ecke an. Ich wohne in Berlin.«
»Das ist nur ein Katzensprung.«
Von wegen. Ich wusste zwar nicht genau, wo der Taunus lag, aber es musste irgendwo in der Nähe von Alpha Centauri sein.
»Ich habe hier Verpflichtungen, Frau Korn. Bitte haben Sie Verständnis für mich, ich kann leider nicht einfach so mal weg. Wenn ich allerdings …«
»Nein, nein. Sie kommen hierher. Besser gesagt, ins Krankenhaus, wo meine Tochter liegt. Ich will, dass Sie Leonie sehen. Ich zahle Ihnen alle anfallenden Fahrtkosten. Warten Sie, ich gebe Ihnen gleich die Adresse. Im Krankenhaus bekommen Sie dann Ihr Interview. Eine Stunde, zwei Stunden, so lange Sie wollen. Sie dürfen auch mit dem Arzt reden, ich entbinde ihn von der Schweigepflicht. Aber Sie müssen ins Krankenhaus kommen.«
Wie ungewöhnlich! Dass Margarete Korn ein Gespräch vis-à-vis bevorzugte, war verständlich – Yim hatte sich ja auch lieber mit mir treffen wollen, als am Telefon zu reden. Aber im Angesicht ihrer im Koma liegenden Tochter … Und sie wollte sogar die Fahrtkosten übernehmen.
Der bizarre Interviewort machte mich neugierig. Blitzartig erkannte ich sein Potenzial – die Mutter der Mörderin bricht ihr Schweigen im Komazimmer der Tochter. Darauf ließe sich der ganze Artikel aufbauen, das war ein echter Hammer für den Einstieg, und ein guter Einstieg war die halbe Miete. Dafür sah ich sogar über meinen Zeitmangel hinweg und nahm die umständliche Fahrt auf mich. Das Beste an der ganzen Sache war: Margarete Korn selbst hatte den Vorschlag gemacht, sodass ich mir nicht vorwerfen musste, sie zu etwas gedrängt zu haben, was sie nicht wollte.
»Also gut, Frau Korn, dann suche ich mir für morgen einen Zug heraus.«
»Wieso erst morgen, Frau – wie war Ihr Name noch – Kagel? Morgen passt es mir nicht. Es ist jetzt halb zehn. Von Berlin nach Frankfurt fahren die Züge fast stündlich.«
Mir kam es vor, als hätte Margarete Korn
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