Das Nebelhaus
Vorfreude auf. »Erst die Möwen, dann ich.«
Er gab ihr einen Kuss. »Gut, dann fütterst du jetzt die Möwen. Aber nur im Garten, nicht woanders hingehen. Sind wir uns einig?«
Sie nickte.
»Inzwischen mache ich das Bananenbrot«, sagte Philipp.
Vor dem Herd wuselte die wortkarge Frau Nan herum. Ihre kleine, exotische, betagte Gestalt wirkte auf Philipp seltsam unpassend inmitten der technisch wie optisch hochmodernen Einbauküche. Ja, sie wirkte fehl am Platz inmitten des ganzen blitzblanken Hauses mit seinen weiten, hellen Räumen, die ineinander übergingen, und vor den riesigen Fenstern, die höher als Altbauwände waren.
Auch wenn der Gedanke aus Philipps Sicht politisch nicht ganz korrekt war – die meisten Menschen, die Frau Nan in diesem Moment gesehen hätten, würden sie sich viel besser in einer kleinen, dämpfigen Garküche in Pnom Penh vorstellen können, wo sie in riesigen Nudelpfannen herumrührte.
Sie hatte ein Gesicht wie altes Pergament, edel zerknittert, würdevoll, geheimnisvoll, an längst vergangene Zeiten erinnernd. Weder Philipp noch Vev hatte eine Ahnung, was Herr und Frau Nan früher gearbeitet hatten. Auf Hiddensee gab es nur wenige Berufe: Zimmermädchen, Kellner, Lebensmittelhändler, Fährmann, Postbote, alles Berufe, die es schon vor hundert Jahren gegeben hatte. Vor ihrer Teilzeitanstellung als Vevs Haushaltshilfe und gelegentliche Tagesmutter für Clarissa war Frau Nan jedenfalls keiner versicherungspflichtigen Arbeit nachgegangen.
»Clarissa möchte ein Bananenbrot«, sagte er. »Nein, lassen Sie, ich mache das schon. Sie haben genug zu tun. Bereiten Sie schon das Abendessen für unsere Gäste vor?«
Frau Nan nickte. Es war sehr schwer, mit ihr Konversation zu machen, obwohl sie fließend Deutsch sprach. Vev störte das nicht, aber Philipp fühlte sich in Frau Nans Gegenwart immer ein bisschen befangen, manchmal sogar unwohl. Es war leichter, einen Papyrus zu lesen als in Frau Nans Gesicht.
Philipp strich eine hauchdünne Schicht Schokocreme auf das Brot und belegte es mit dicken Bananenscheiben – Clarissa wäre es umgekehrt lieber gewesen, aber zu viel Zucker war nicht gesund, fand Philipp. Während er das Brot schmierte, bemerkte er, wie ein feines Arom von Ärger und Antipathie sich in ihm ausbreitete. Bisher hatte er geglaubt, das Wiedersehen mit Timo und Leonie – Yasmin war ja nicht vorgesehen gewesen – würde ihm nicht mehr als ein Klassentreffen bedeuten: einfach über alte Zeiten quatschen, über sich selbst lachen, sich die Lebensgeschichten der anderen anhören, ein paar gesellige Stunden verbringen … Auf einmal bedauerte er, die Einladung ausgesprochen zu haben, aber sie ließ sich nun mal nicht mehr rückgängig machen. Es war zu spät.
Philipps Blick ging aus dem Küchenfenster auf die Dünen, wo Vev – die inzwischen wieder heruntergekommen war – und Clarissa Toastbrotscheiben zerrissen, auf ihre Handflächen legten und den Möwen anboten. Wenn sich eine Möwe das Brot schnappte, lachten sie hell auf, als habe das Glück sie mit seinem Flügel gestreift. Clarissa warf mit Begeisterung Brotfetzen in den Himmel. »Jonathan, Jonathan«, rief sie. Für sie hieß jede Möwe Jonathan, seit Vev ihr vor einigen Tagen Richard Bachs Die Möwe Jonathan vorgelesen hatte. Jonathan, Jonathan – dieser Ruf, dieses Lachen, drang tief in ihn ein.
Vev und Clarissa, das Lachen, die zwei Schattenrisse vor dem Hintergrund eines krebsfarbenen Insellichts, beobachtet aus seinem herrlichen Glashaus – das war sein größtes Glück. Er erinnerte sich noch, wie er vor dreißig Jahren davon geträumt hatte: ein großes Haus, Sonne, Strand und Menschen, die er liebte, schöne Möbel, Bilder, ein großer Fernseher, eine bombastische Stereoanlage, alles, was er nicht gehabt hatte. Wenn er an diesen Traum seiner Jugend dachte – und er dachte sehr oft daran –, erschauerte er kurz unter der Furcht, die Errungenschaften könnten wie Seifenblasen zerplatzen, er könnte erwachen und wäre wieder in dem winzigen Zimmer mit der feuchten Tapete, wo nebenan seine Eltern stritten. Clarissa und Vev, die Sauberkeit des Hauses, die Stille und der Erfolg als Architekt waren Grundpfeiler seiner Existenz, und er musste sich und anderen all das wieder und immer wieder vor Augen führen, um seine Urangst zu bezwingen, das Glück könnte eines Tages in sich zusammenstürzen.
Aus einem Grund, den er nicht benennen und fassen konnte, gelang ihm das an diesem Nachmittag nicht ganz.
5
Ich
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