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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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zwei Jahre lang darauf gewartet, interviewt zu werden, und hielte es keinen Tag länger aus. Das alles war wirklich reichlich merkwürdig: zuerst der wortlos keuchende Herr Nan, dann sein sprunghafter Sohn und nun Leonie Korns äußerst mitteilungsbedürftige Mutter.
    Wieso eigentlich nicht sofort fahren?, dachte ich. Im Zug konnte ich die Hefte der Fernkursschüler korrigieren. Außerdem hätte ich einen guten – und noch dazu wahren – Grund, Yim für den Abend abzusagen.
    Margarete Korn gab mir die notwendigen Daten durch. Sie klang nervös und zugleich resolut.
    »Bis nachher. Und Sie kommen ganz sicher, ja?«
    »Ganz sicher.«
    Das Kreiskrankenhaus von Bad Homburg war, wie die meisten Kliniken in Deutschland, von außen betrachtet von beachtlicher Hässlichkeit. Grauer Beton, kantige Formen, viel Ökonomie und wenig für das Auge und die Seele. Innen war es angenehmer. Das Gebäude hatte eine verhältnismäßig luxuriöse Eingangshalle und ein paar hübsche Ecken, einer Kurort-Klinik angemessen. Drang man jedoch weiter ins Innere vor, bot sich einem wieder das gewohnte Bild. Warum benutzen eigentlich alle Kliniken denselben grässlichen Linoleumbelag, in einer Farbe gehalten, für die es keinen Namen gibt? Nicht einmal die Leute, die die Farbe bestellen, finden sie schön, trotzdem ist sie in öffentlichen Einrichtungen ungebremst auf dem Vormarsch.
    Nachdem ich mich zweimal verlaufen hatte, fand ich endlich das richtige Anmeldezimmer.
    »Von einem angekündigten Besuch weiß ich nichts«, sagte mir eine überarbeitete Krankenschwester, die von Formularen umgeben war. Sie ließ mich warten, wühlte in irgendwelchen Unterlagen und schimpfte unentwegt vor sich hin, unverständliches Zeug, gerade laut genug, um mir zu suggerieren, dass ich ihren bedauernswerten Zustand mitverursacht hätte. Zwischendurch sah sie mich an, als erwartete sie, dass ich mich zu den Vorwürfen äußerte. Dergleichen unterließ ich tunlichst. Nach einigen Minuten beschloss sie, doch über meine Ankunft vorab informiert worden zu sein, und wies mir mit einer äußerst vagen Armbewegung, die mindestens zwei Himmelsrichtungen umfasste, den Weg zum Zimmer 518.
    Mit gemischten Gefühlen klopfte ich an die Tür und öffnete sie, nachdem ich drei Anstandssekunden gewartet hatte. Ein menschenleerer Raum – so kam es mir jedenfalls vor, auch nachdem ich Leonie Korn auf dem einzigen Bett entdeckt hatte. Denn dass diese Frau nicht mehr im Hier und Jetzt weilte, sondern irgendwo anders, hätte sich auch jenen auf Anhieb erschlossen, die nicht über ihren Zustand Bescheid wussten. In ihrer Blässe und mit den kalkweißen Lippen wirkte sie wie eine Tote. Der Körper war starr, noch nicht einmal die Augenlider zuckten, wie man es von Schlafenden kennt.
    Seit zwei Jahren, seit der Blutnacht von Hiddensee, war sie nicht ansprechbar und würde es vielleicht bis zu ihrem physischen Tod nicht mehr sein. Sie würde kein Wort sagen, kein Lächeln und keine Stirnfalte zeigen, nicht lieben und nicht hoffen. Sie würde nie wieder eine Mahlzeit zu sich nehmen, nie wieder mit Freunden zusammensitzen, Weihnachten feiern, Sex haben, ein Buch lesen, spazieren gehen … Dreißig, vierzig, vielleicht fünfzig Jahre lang. Aus der Welt der Lebendigen war Leonie verbannt, und ihren Tod verhinderten zwei Maschinen, die ihren Kopf flankierten. Leonie würde altern, ohne zu reifen. Mit jedem Jahr, das verging, würden die Dinge, die jemand – vermutlich ihre Mutter – um sie herumgestellt hatte, ein bisschen lächerlicher und ein bisschen tragischer werden.
    Es handelte sich um kleine Figuren aus Knetmasse oder Porzellan, die auf einem Bord zu Leonies Rechter standen. Sie sahen aus wie Zwerge und Feen, dazu Stofftiere von allen fünf Kontinenten, Puppen, Papierblumen, bunte Kiesel und kleine Windräder aus Plastik.
    Ich hatte dergleichen schon auf einem Friedhofsgrab gesehen, jenem neben dem von Benny, auf dem stand: Melanie 1996 – 2005. Noch heute, da Melanie eigentlich auf die Volljährigkeit zusteuern würde, drehten sich dort die bunten Windrädchen aus Plastik. Aber in einem Krankenhaus, als Attribute für eine vierzigjährige Frau … Ja, es hatte wirklich etwas Einfältiges und Tragisches zugleich.
    Und etwas Bedrückendes. Nach fünf Minuten hielt ich es nicht mehr aus, an diesem Totenbett einer Lebenden zu stehen.
    Ich wandte mich zur Tür – und sah einer älteren Frau ins Gesicht.
    Margarete Korn wirkte zerbrechlich wie eine gesprungene Tasse. Ihr Kopf

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