Das Nebelhaus
zitterte leicht. Ihre Hand, dürr und hart wie ein Geäst, streckte sich kraftlos in die meine.
»Ich habe Sie hineingehen sehen«, sagte sie mit sanfter, belegter Stimme. »Ich habe mich absichtlich zurückgehalten, damit Sie ein paar Minuten mit Leonie allein haben. Hatten Sie eine gute Fahrt? Danke, dass Sie gekommen sind.«
Sie sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Doch das tat sie nicht. Vor einigen Monaten, so stellte ich mir vor, waren ihre Tränen versiegt, es waren einfach keine mehr in ihr drin, sie waren alle aufgebraucht. Ihr Gewicht – ich verglich es mit dem auf einem Foto – hatte sich um mehr als die Hälfte reduziert, so als wolle sie auf diese Weise irgendwann ganz von der Welt verschwunden sein.
Sie machte eine höfliche Geste. »Setzen wir uns, ja?«
Margarete Korn ließ sich auf die rechte Seite von Leonies Bett sinken, neben all die kindlichen Devotionalien einer Mutter für die sterbende Tochter. Mir blieb nur der Stuhl auf der linken Seite des Bettes, sodass ich Frau Korn gegenübersaß, wobei Leonies unter einer schneeweißen Decke liegender Körper gleichsam der Tisch war.
Diese Sitzanordnung gefiel mir überhaupt nicht. Über die Komapatientin hinweg über sie zu sprechen war peinlich und hemmend, wenngleich sonderbar – und das Sonderbare ist die Ware des Journalisten. Daher protestierte ich nicht.
»Jeden Samstag«, begann Margarete Korn zu erzählen, »schminke ich Leonie. Dann ist sie hübsch. Wenn ich damit fertig bin, sieht sie aus, als würde sie jeden Moment aufstehen und ausgehen, vielleicht in die Disco oder zu einem Abend bei Freunden. So bleich wie jetzt ist sie nicht sie selbst, das stört mich, und ab und zu will ich sie wieder vor mir haben, so wie sie war. Wissen Sie, Frau Kagel, was ich am meisten von meiner Tochter vermisse? Von allem am meisten vermisse ich Leonies Stimme. Ich vergesse, wie sie geklungen hat. Stück um Stück geht meine Tochter mir verloren, obwohl sie direkt vor mir liegt.«
Margarete Korn sprach mit mir, als würde sie mich schon seit Jahren kennen.
»Nicht wahr, Sie finden, dass ich übertreibe, wenn ich all diesen kindlichen Krimskrams um meine vierzigjährige Tochter aufstelle? Sie müssen mir nicht antworten. Sie müssen sich auch nicht entschuldigen. Jeder würde denken, dass ich übertreibe, und jeder würde zugleich Verständnis dafür haben. Eine alte Mutter, von Kummer zerfressen, ihr einziges Kind halbtot … Und es stimmt ja auch, genau so ist es. Aber wissen Sie, ich habe all diese bunten Sachen nur deshalb aufgestellt, weil sie die glücklichste Zeit in Leonies Leben symbolisieren. Denn ungefähr bis sie acht Jahre alt war, war Leonie ein glücklicher oder wenigstens zufriedener Mensch. Danach nie wieder.«
Danach nie wieder – das war der perfekte Moment, an dem Journalisten ihr Notizbuch zücken und das Tonbandgerät einschalten würden, und tatsächlich tat ich beides. Dieses Verhalten war einstudiert und tausendfach praktiziert. Ähnlich wie ein Pianist die Finger über die Tasten schickte, ohne darüber nachzudenken, sprang ich automatisch auf den richtigen Moment an, um meine Fragen zu stellen.
»Wie war Leonie als Kind?«
Margarete Korns Blick ruhte auf dem Gesicht ihrer Tochter. »Manchmal ein bisschen schwierig. Aber ich kenne kein Kind, das einfach ist. Ich kenne auch keine Mutter, die einfach ist. Schwierig zu sein ist das Recht der Kinder und die Pflicht der Eltern. Das hat meine Mutter immer gesagt.«
»Ihre Mutter war eine weise Frau. Wie hat sich …?« Ich warf einen Seitenblick auf die Komapatientin und begann die Frage von neuem. »Wie hat sich Leonies schwieriges Betragen geäußert?«
»Sie ist immer schon recht launisch gewesen. Ich glaube, das ist das richtige Wort. Sie hat gute Tage und schlechte Tage, wie wir alle. Sind Sie immer gleicher Laune?«
»Nein.«
»Sehen Sie. Nun denn, vielleicht sind Leonies Ausschläge ein bisschen deutlicher, das mag sein. Wenn sie einen schlechten Tag hat, kann sie ganz schön garstig sein. Aber das meint sie nicht so, gewiss nicht. Sie hat oft starke Kopfschmerzen, ich denke, die Launen rühren auch daher. Ich habe ihr schon oft geraten, zum Arzt zu gehen.«
Kurzes Schweigen.
»Leonie hat nicht auf Sie gehört, oder?«
»Sie hat seit je einen Dickschädel. Es gibt Phasen, in denen sie geduldiger und Ratschlägen gegenüber aufgeschlossener ist, das sind Phasen großer Anhänglichkeit. Dann wieder … Tja.«
Natürlich fiel mir auf, dass
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