Das Nebelhaus
Frau Korn gerne in der Verlaufsform der Gegenwart über ihre Tochter sprach, so als hätte Leonie noch immer ihre guten und schlechten Tage.
»Welcher Stimmung war Leonie, als sie nach Hiddensee gefahren ist?«
»Sie war nervös. Leonie ist vor jeder kleinen Reise nervös, das hat sie von mir. Da es um frühere Freunde ging, die sie wiedersehen wollte, war sie natürlich doppelt aufgeregt. Das ist doch verständlich, oder? Einen von ihnen hat sie besonders gemocht, diesen Autor …«
»Timo Stadtmüller?«
»Ja, genau. Sie war damals, als junge Frau, ein bisschen in ihn verliebt. Ein besseres Wort dafür wäre verknallt. Das sagt man doch so, wenn die Liebe wie ein Knall kommt und ebenso schnell wieder verhallt? Sie hat ihn wohl auch auf Hiddensee noch sehr gemocht. Man hat einen Zettel in ihrer Handtasche gefunden.«
Margarete Korn überreichte mir eine in Leonie Korns kindlicher Handschrift verfasste Notiz: »Timo ist mein einziger Freund auf dieser Insel. Es bahnt sich etwas an.«
»Ich weiß nicht, warum sie das geschrieben hat, und war verwundert. Denn Leonie war damals noch mit Steffen zusammen, Steffen Herold.«
Der Name stand nicht auf meiner Liste der potenziellen Interviewpartner. Von Steffen Herold hörte ich zum ersten Mal.
»Haben Sie zufällig seine Adresse und Telefonnummer?«
Margarete Korn überreichte mir das Adressbuch ihrer Tochter, ein Kalenderbuch von 2010 mit schwarzem Kunststoffeinband, mittendrauf ein großer gelber, aufgeklebter Smiley. »Da steht alles drin. Aber erhoffen Sie sich nicht zu viel. Steffen hat sich von Leonie abgewandt, seit sie hier liegt. Er hat sie meines Wissens nicht ein einziges Mal besucht. Auf meine Anrufe hat er nicht reagiert.«
»Die beiden waren ganz sicher ein Paar?«
»Ja, natürlich. Sie waren einige Male bei mir zum Essen, haben sich geküsst, übers Heiraten geredet. Ein gutaussehender Mann, aber kalt bis ins Herz, wenn Sie mich fragen. Eine Schande, Leonie so im Stich zu lassen! Ich habe ihm damals, als er mit meiner Tochter zusammen war, massenweise warme Socken und Schals gestrickt, und er … Ein undankbarer Kerl.«
Ich notierte mir die Kontaktdaten von Steffen Herold, wobei einige Fotos von Leonie aus dem Buch herausrutschten, Fotos, die ihre Kinderzeit bis ungefähr zu ihrem dreißigsten Lebensjahr dokumentierten.
»Die sind für Sie«, sagte Frau Korn. »Alles Abzüge.«
»Danke.« Damit reichte ich das Buch über Leonies Körper hinweg an Margarete Korn zurück.
Ich hatte mich noch immer nicht an diesen seltsamen Interviewort gewöhnt, und es war mir unangenehm, all diese Fragen in unmittelbarer Gegenwart der tot scheinenden Lebenden zu stellen, die zugleich Gesprächsgegenstand war. Leonie roch nach Salbe und Puder, und ihre kastanienbraunen Haare schimmerten synthetisch im Licht der Neonlampe. Die rot lackierten Fingernägel waren fünf Farbtupfer auf der schneeweißen Bettdecke.
»Frau Korn, Sie haben Leonies glückliche Lebensphase erwähnt, bis sie acht oder neun Jahre alt war. Was ist danach passiert?«
Wieder herrschte einige Sekunden lang großes Schweigen.
» Ihr Vater war streng mit ihr, sehr streng. Er war ein schlechter Mensch und ein noch schlechterer Vater. Wenn Leonie die Anforderungen nicht erfüllte – die kleinsten oder die größten, das spielte keine Rolle –, hat er sie in den dunklen, stickigen und engen Geräteschuppen gesperrt.«
»Haben Sie eingegriffen?«
»Erst, als Leonie fünfzehn war.«
»Wieso nicht früher?«
»Ich war … ich hatte Depressionen, starke Depressionen, mehrere Perioden von Apathie, viele Jahre lang, die sich nach intensiver ärztlicher Behandlung gebessert haben. Leonie hat als älterer Teenager ebenfalls Depressionen bekommen. Nicht, dass sie mir davon erzählt hätte … Ich habe es gespürt, verstehen Sie? Alle Menschen haben ein Gespür für irgendetwas. Als Journalist hat man einen Riecher für Geschichten und als ehemalige Kranke für Krankheiten, so ist das eben, Frau Kagel. Glücklicherweise hat Leonie sich selbst geheilt. Sie ging nach Berlin, fand dort Freunde und eine Aufgabe als Tier- und Umweltschützerin. Ich war damals beunruhigt, wenn sie mir von ihren Aktivitäten mit dieser wilden Gruppe erzählte, und ich bin sicher, sie berichtete mir nur die Hälfte, wenn überhaupt. Aber diese Zeit, in der sie sich für eine Sache einsetzte, hat ihr gutgetan. Als sie in den Taunus zurückkehrte, begann sie ihr Leben in den Griff zu bekommen – die Ausbildung zur Erzieherin,
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