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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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ihr Engagement für Kinder, die schöne Wohnung, die sie sich vom Erbe ihres Vaters gekauft hat, ihre Tierliebe, die Beziehung zu Steffen …«
    »Die Pistole nicht zu vergessen.«
    Diese Bemerkung war eine Provokation, von der ich mir einredete, sie sei wohlkalkuliert. Als Journalistin fand ich, dass ich das Interview bisher zu brav und passiv geführt hatte und dass es Zeit wurde, ein bisschen nachzupfeffern. Tatsächlich jedoch ertrug ich das Gerede nicht, das Leonie Korn die Züge einer Heldin verlieh. Die vermeintliche Heldin hatte immerhin drei Menschen erschossen und sich anschließend selbst richten wollen. Sie hatte andere Menschen fürs Leben gezeichnet, so wie Yim, der als Erster am Ort des blutigen Massakers eintraf, seine brutal ermordete Mutter fand und die Polizei alarmierte.
    Mein Verstand akzeptierte, dass alle Mütter ihre Kinder verklärten, auch dann noch, wenn sie gemordet hatten. Vielleicht war das von der Natur sogar so gewollt. Mein Gefühl jedoch machte da nicht mehr mit, es empörte sich. Die komplette Ausblendung der Tatsache, dass Leonie eine zutiefst gestörte, um nicht zu sagen durchgeknallte Frau gewesen sein musste, um derart Amok zu laufen, ging mir zu weit.
    »Die Pistole hatte sie zur Selbstverteidigung dabei«, erwiderte Margarete Korn mit Bestimmtheit. »Leonie ist einige Jahre zuvor ausgeraubt worden.«
    »Sie hat nie Anzeige erstattet.«
    »Ach, was kann die Polizei schon ausrichten.«
    »Waren Sie bei dem vermeintlichen Überfall auf Leonie dabei?«
    »Nein, aber … Ich finde, das spielt keine Rolle.«
    »Wenn es diesen Überfall gar nicht gegeben hat, dann schon. Leonie hat keinen Waffenschein, und das Mitführen derartiger Schusswaffen ist sogar mit Waffenschein verboten. Haben Sie Ihre Tochter jemals auf die Pistole angesprochen?«
    »Ich mag Schusswaffen nicht, aber ich kann Leonie verstehen. Als Frau ist man dem Pöbel doch schutzlos ausgeliefert.«
    »Judo, Karate, Taekwondo, Tränengas … Aber lassen wir das, Frau Korn. Mich interessiert vor allem eines: Haben sich Leonies enorme Stimmungsschwankungen in den Jahren vor den Geschehnissen von Hiddensee gelegt?«
    »Das nicht gerade …«
    »Sie sagten vorhin, Sie hätten als ehemals Depressive eine gute Antenne für psychische – sagen wir – Unregelmäßigkeiten.«
    »Ja, das stimmt. Daher weiß ich, dass auch bei Ihnen nicht alles zum Besten steht.«
    Diese Behauptung haute mich fast vom Stuhl. Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu fangen. Sekunden, in denen sich plötzlich Gedanken auf den Weg machten, die seit langem in den vergessenen, halb überwucherten Nebengeleisen meines Gehirns abgestellt waren, wo ich sie nur manchmal im Vorbeifahren mit Beachtung streifte: In deinem Leben stimmt etwas nicht, du hast dich verlaufen, du lebst nicht richtig, du solltest das tun, was du tun willst, nicht immer nur das, was andere wollen, das du tust … Weisheiten wie von einem chinesischen Kalender rasten funkensprühend durch meinen Kopf.
    Das kindliche Gesicht meines Bruders Benny blitzte auf, ein Foto in meinem Wohnzimmerschrank, mein einziges Foto von ihm, auf dem er mit vor der Brust verschränkten Armen, das linke Schussbein auf den Fußball gestellt, stolz wie Bolle posierte, eine Woche vor seinem Tod. Ich sprang ohne Übergang dreißig Jahre weiter, an meinen Schreibtisch, vor die Mappen, das Auge des Computers, die Texte, das Telefon, dachte an das Hin und Her, die Sorgen um Termine und Pünktlichkeit und neue Aufträge, die neue Termine und Pünktlichkeit mit sich brachten, dachte an die Ansprüche der anderen, die zu meinen geworden waren. Mit einem Mal schmolzen die ganzen fünfzigtausend Stunden der Pflicht zu einer einzigen Sekunde der Traurigkeit zusammen.
    Die Routine, der gute alte Prellbock, stoppte schließlich die Irrfahrt. »Wir sind hier, Frau Korn, um über Leonie zu sprechen, nicht über mich. Hatten Sie nie das Gefühl, dass Leonie ärztliche Behandlung benötigt, um ihre Unausgeglichenheit in den Griff zu bekommen?«
    »Ich habe sie vergeblich darauf angesprochen. Sie hat irgendein Medikament geschluckt, aber woher sie es hatte und was genau es war, weiß ich nicht.«
    »Trotzdem hat Ihnen die Pistole keine Sorgen bereitet?«
    »Ja und nein. Ich war der festen Überzeugung, dass Leonie anderen nie etwas antun würde. Allerdings war ich besorgt, dass sie in einer unglücklichen Stunde sich selbst … Ja, dieser Gedanke ist mir gelegentlich gekommen. Mich beruhigte dann immer, dass die Beziehung zu

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