Das Nebelhaus
Steffen ihr Stabilität gab.«
»Wie kommen Sie damit zurecht, dass Sie sich in Ihrer Einschätzung von Leonies Stabilität geirrt haben?«
»Ich glaube nicht, mich geirrt zu haben.« Margarete Korn wandte sich ihrer Tochter zu. Sie stand auf und beugte sich über Leonies Gesicht, bis sie nur noch wenige Zentimeter über ihm schwebte. »Sag es ihr, Leonie. Nun komm schon, sag es.«
Was für ein seltsamer, fast unheimlicher Augenblick. Ich verstand nicht, was da gerade passierte.
»Sag es ihr. Bitte, Leonie. Öffne die Augen. Sieh mich an. Sieh diese Frau an, und sag ihr die Wahrheit. Erzähl ihr, wie es wirklich war. Verteidige dich.«
Mein Blick haftete auf Leonies geschlossenen Augen. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie nach zwei Jahren in just diesem Moment erwachen würde, und doch schien es irgendwie möglich, da ihre Mutter diese Erwartung beschwor. So als könnte die Hoffnung einer alten Frau die Welt verändern, die Ärzte Lügen strafen, die Zeit zurückdrehen, die Schuld der Tochter tilgen, die Toten lebendig machen, den geplatzten Luftballon neu aufblasen.
Immer wieder flüsterte sie: »Sag es ihr, Leonie, sag es.« Ihr Kopf zitterte, ihre Stimme aus der mageren Brust war stark wie die einer Hohepriesterin. »Du wirst wach. Du wirst wach, Liebes, und dann zeigst du es denen allen.«
Ich beobachtete die Finger der Komapatientin, starrte auf die fünf rot lackierten Nägel, achtete auf jede Falte des Betttuchs, ob sie sich veränderte, bewegte.
Mein Blick glitt auf den Bildschirm, wo die digitale Linie ein gleichmäßiges Auf und Ab der Herzfrequenz oder vielleicht auch der Hirnströme abbildete, winzige Zuckungen einer Existenz, die kein Leben mehr war und noch kein Tod, bewacht von aseptischen Maschinen, gespeist von elektrisch generierter Atemluft. Gab es noch einen Willen in diesem Kopf? War er noch zu irgendeiner Art von Sprache fähig? Die Elektroden sagten nein.
Minuten waren vergangen. Margarete Korn fiel zurück auf den Stuhl. Ihr Blick stürzte zu Boden, und nachdem sie die Lider geschlossen hatte, in die Tiefen der Hoffnungslosigkeit in ihrem Innern. Ihr Körper sackte zusammen, als sei er jeden Inhalts beraubt, und einen Moment lang glich er dem ihrer Tochter.
Erschrocken sprang ich auf. »Frau Korn, was ist denn? Geht es Ihnen nicht gut? Ich hole einen Arzt.«
Margarete Korn öffnete die Augen, streckte den Arm in die Höhe und rief: »Nein, lassen Sie nur. Es geht schon wieder. Wirklich, es geht schon wieder.«
Mir tat es leid, die alte Dame zuvor so hart befragt zu haben. In meinem Job ging es stets darum, die Grenze zwischen Wissbegierde und Penetranz zu erkennen, auf ihr zu balancieren und sie nicht zu überschreiten. Es kam auf den Grad der Rücksichtnahme an: zu wenig davon hieß, zum Arschloch zu werden, zu viel davon hieß, den Beruf verfehlt zu haben.
»Ich sollte trotzdem einen Arzt holen«, beharrte ich, in der Absicht, damit meine Menschlichkeit zu beweisen.
»Kein Arzt auf der ganzen Welt kann mir helfen, Frau Kagel.« Womit sie recht hatte.
Sie griff nach ihrer Handtasche und zog einen Hundert-Euro-Schein heraus. »Bevor ich es vergesse, die versprochene Fahrtkostenerstattung.«
Ich hatte Skrupel, das Geld anzunehmen, noch dazu da Margarete Korn es auf Leonies Körper ablegte wie auf einen Kassentisch. Ich konnte den Hunderter durchaus gebrauchen. In den letzten Monaten hatte ich wieder nichts zurücklegen können, und Tante Agathes Inspektion war fällig.
»Nein, danke, Frau Korn. Sehr nett, aber …«
»Ich bestehe darauf. Ich habe es versprochen, und Geld – wissen Sie –, Geld ist nicht mein Problem.«
Schamhaft schob ich den Hunderter in die Gesäßtasche meiner Jeans.
Margarete Korn hatte sich wieder gefangen. Sie sagte: »Ich habe Sie aus zwei Gründen hergebeten. Zum einen, um Ihnen und damit der Welt mitzuteilen, dass Leonie nicht diejenige ist, für die alle sie halten. Sie hat dieses schreckliche Verbrechen auf Hiddensee nicht begangen. Ich kenne meine Tochter besser als jeder andere, Frau Kagel, und ich weiß, ja, ich würde sogar all mein Geld darauf wetten und jeden Eid schwören, dass Leonie nicht in der Lage ist, einen Menschen zu töten, geschweige denn drei. Trotz allem, was die Polizei gesagt hat und was die Zeitungen geschrieben haben: Leonie ist unschuldig. Jemand anderes hat diese Morde verübt. Ich weiß auch nicht, wer es war, aber Leonie keinesfalls. Drucken Sie, was ich gesagt habe. Bitte drucken Sie es.«
Erneut verschob
Weitere Kostenlose Bücher