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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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sich meine ambivalente Einstellung zu dieser Frau, diesmal zu ihren Ungunsten.
    Der Indizienprozess gegen Kurt R., der meinen Bruder stranguliert und ihn danach zu den Enten, dem Schlamm und den Sumpflilien in den Weiher im Wald geworfen hatte, endete mit einem Schuldspruch und der Höchststrafe in allen Instanzen. Aber die Mutter und die Schwester von Kurt R. tingelten durch die Talkshows und streuten tausend Zweifel an der Richtigkeit des Urteils unter das Fernsehvolk, verständnisvoll befragt von Moderatoren in Maßanzügen oder Designerkostümen. Ich hatte den Applaus noch immer im Ohr. Wusste nicht, ob er ehrlich gemeint war. Aber es gab ihn. Er hatte sich in mein Gehirn gefressen und ein hübsches Plätzchen gesucht, von dem aus er mich quälen konnte. Bei mir blieb der Eindruck hängen, dass das, was im Fernsehen passierte, bei den Leuten als die Wahrheit ankam, während meine schweigenden, in ihrer Trauer eingeschlossenen Eltern sich auflösten, zu inexistenten Wesen wurden. Keine Ahnung, vielleicht irrte ich mich ja auch.
    Margarete Korn eine printmediale Bühne zu verschaffen, von der aus sie ihre kruden Behauptungen etablieren und eventuell sogar den Sprung ins Fernsehen schaffen konnte, ging mir gegen den Strich. Andererseits gehörte es zur journalistischen Berichterstattung, die Aussage der Mutter der Tatverdächtigen nicht unter den Tisch fallen zu lassen.
    Ich nickte, ließ jedoch offen, wie ich ihre Meinung verpacken würde.
    Sie war erleichtert. »Dann hat sich unser Zusammentreffen wenigstens in diesem einen Punkt gelohnt«, seufzte sie. »Denn meine andere Hoffnung hat sich zerschlagen, nämlich dass Leonie, wenn sie hört, wie falsch Sie meine Tochter beurteilen und verurteilen, vor lauter Zorn erwacht.«

6
    September 2010
    Die Stille Hiddensees war von besonderer Art. Der Wind brauste den Spaziergängern in den Ohren, die Bäume knarrten, das Meer schlug auf den Strand – und doch hatte man den Eindruck großer Geräuschlosigkeit. Die moderne Welt war abwesend, keine Motoren, keine Hupen, keine Baustellen, Autobahnen, Zubringer, Flughäfen, Schwerlaster, keine Risse in der Stille. Nur ein paar Flugzeuge waren zu sehen – am Himmel über Hiddensee, hoch oben, zerbrachen geräuschlos ihre kalkweißen Linien, die die Gestalt von Skeletten annahmen, bevor sie sich verflüchtigten.
    Vier Spaziergänger sprenkelten den Strand. Philipp hatte alle Hände voll mit Clarissa zu tun, die Purzelbäume im Sand schlug und dabei ihren Anorak ruinierte, Leonie, in eine Strickjacke gekuschelt, bummelte hinterher und schickte melancholische Blicke nach Westen, Yasmin schritt kraftvoll voran, so als gelte es, in den Krieg zu ziehen, Timo ließ die Füße vom Meerwasser überspülen und dachte an Vev, die im Nebelhaus geblieben war, um den Tisch für das Abendessen zu decken.
    »Wir erleben wohl die letzten Sommertage«, sagte Leonie, die sich Timo von hinten genähert hatte. Ihre Stimme klang, als hätte sie in den letzten Monaten in Kirchen Kerzen dafür angezündet, dass der Sommer bald vorüberging.
    »Du bist deswegen erleichtert?«
    »Ich bin eher der Herbsttyp und blühe bei frischen Temperaturen auf.«
    »Eine Aster, ja?«
    Der Vergleich schien ihr zu gefallen. Sie ließ sich in den feuchten Sand sinken, was zugleich eine Aufforderung an Timo war, sich zu ihr zu setzen. Das tat er, während Philipp ein Stück entfernt mit Clarissa spielte und Yasmin, als sie sah, dass sie zu weit vorausgegangen war, den Schneidersitz einnahm und die Brandung beobachtete, reglos wie der goldene Buddha neben der zerschlissenen Decke in Berlin.
    Leonie legte ihre monströse Handtasche, die eher einem Seesack glich, auf ihrem Schoß ab und klammerte sich daran wie eine Schiffbrüchige an eine Planke. Sie wusste nichts zu sagen, und Timo war damit beschäftigt, die Frau neben ihm zu verstehen. Einerseits wirkte sie brav und gemütlich – die Zusammenstellung ihrer Kleider, die Frisur, die Figur. Andererseits raste sie wie ein Henkersknecht, und zwar nicht nur auf der Autobahn, sondern auch über Stadt-, Land- und Dorfstraßen. Es war leicht, ihre sanfte, etwas belegte Stimme zu mögen, manchmal jedoch schlug sie urplötzlich um. Das war dann, als würde eine Harfenistin mitten im Spiel aufstehen und einen Schrotschuss abfeuern.
    Mit einem Blick auf Yasmin, die sie nicht hören konnte, sagte Leonie: »Timo, weißt du noch, wie Yasmin uns früher in den Ohren gelegen hat, damit wir uns mit einem Schlauchboot vor die Walfänger

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